: Keine Macht dem Zucker Von Mathias Bröckers
Im Sommer 1906 wurden in Atlanta (Georgia) 60 Fässer Coca- Cola beschlagnahmt, Anlaß war das gerade in Kraft getretene erste amerikanische Gesetz zur Reinerhaltung von Nahrungs- und Arzneimitteln. Das neugegründete Bureau of Chemistry hatte die Brause analysiert und soviel belastendes Material gefunden, daß wegen unerlaubter Zusätze und Falschauszeichnung Anzeige erstattet wurde. Doch die Anklage und das Gerichtsverfahren zogen sich in die Länge. Der Leiter der Behörde, Dr. Wiley, war vom Landwirtschaftsminister angewiesen worden, „seine Anstrengungen, die Coca-Cola-Company vor Gericht zu bringen, einzustellen“.
Wie bei Watergate bedurfte es erst eines investigativen Journalisten, um die vor Gericht zu bringen. Den Cola-Anwälten gelang es trotzdem, den Prozeß zu gewinnen: Koffein, so behaupteten sie u.a., sei kein verbotener „Zusatz“, sondern Bestandteil des Grundrezepts. Dem Widerspruch des Bureaus of Chemistry wurde erst im September 1917 vom obersten Bundesgericht stattgegeben. Nach diesem Urteil hätte Coca-Cola eigentlich außerhalb des Bundesstaats Georgia nicht mehr verkauft werden dürfen – allerdings bezog sich das Verbot nur auf die vor elf Jahren beschlagnahmten 60 Fässer. Dem wackeren Gesundheitsbeamten Wiley wurde von seinem Minister untersagt, erneut ein Verfahren anzustrengen, schrieb er in seinen Erinnerungen 1929. „So konnte die Coca-Cola-Company sich an der New Yorker Börse etablieren. Ihre Verkaufszahlen haben mittlereile schwindelerregende Höhen ereicht (...) Das in Coca-Cola enthaltene freie Koffein ist – auf nüchternen Magen getrunken – bedeutend gefährlicher als eine vergleichbare Koffeinmenge, die man zusammen mit der in Tee oder Kaffee enthaltenen Gerbsäure zu sich nimmt.“
Als Forscher hatte Wiley Anfang des Jahrhunderts mit seiner „Giftschwadron“ Aufsehen erregt, mit einer Gruppe kerniger Freiwilliger, die sich von ihm im Rahmen eines Versuchs mit Ketchup, Konserven und anderen bedenklichen Lebensmitteln füttern ließ. Die Bulletins seiner langsam erkrankenden Probanden wurden täglich veröffentlicht. Heute, wo sich in Atlanta die „Giftschwadronen“ sowohl auf dem Rasen (mit versteckten Dope-Ampullen) als auch auf den Rängen (mit roten Plastikbechern) im Home of the Coke ein Stelldichein geben, sind die Tagesergebnisse von Wileys historischer Junk-food-Olympiade immer noch interessant, vor allem im Hinblick auf einen Schad- und Suchtstoff, dessen globaler Siegeszug damals gerade erst begann: raffinierter Zucker. In seinem Buch „Zuckerblues – Suchtstoff Zucker“ (Zweitausendeins), das 1976 erschien, dokumentiert William Dufty die Geschichte eines scheinbar harmlosen Nahrungsmittels, dessen gigantischer Mißbrauch aber mittlerweile mehr Gesundheitsschäden anrichtet als alle legalen und illegalen Drogen zusammen. Weil Zucker-Großdealer wie Coca-Cola zu den mächtigsten Konzernen der Welt zählen, bleiben die seit einem Jahrhundert gesicherten Erkenntnisse über das Schadens- und Suchtpotential der süßen Volksdroge bis heute unter der Decke. Auch heute ist Duftys Report deshalb noch brandaktuell – nicht nur wegen des olympischen Tanzes um die krankmachende Zuckerbrühe.
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