: Auf dem Weg zum „Neuen Menschen“
Stepan Podlubnyj, Bauernsohn, führte während der Jahre des großen Schreckens ein Tagebuch. Ein einzigartiges Dokument über den Versuch, sich zum Sowjetbürger zu emanzipieren ■ Von Christian Semler
Im Jahr 1989, als die meisten verbotenen Zonen der sowjetischen Geschichte bereits begehbar waren, gründete sich, als nicht- staatliche Institution, das „Volksarchiv“ in Moskau. Mittels Anzeigen wurde die Bevölkerung aufgefordert, dem Archiv private Dokumente von zeitgeschichtlicher Bedeutung zu überlassen.
Stepan (Stepka) Podlubnyj, ein 75jähriger Rentner, vormals Wirtschaftsplaner im Gesundheitsministerium und zeit seines Lebens ein passionierter Tagebuchschreiber, entschloß sich, dem Archiv seine Aufzeichnungen aus den dreißiger Jahren zugänglich zu machen: „Als persönlicher Beitrag zur Aufdeckung der Wahrheit über den Stalinismus“. In den folgenden Jahren bekam der alte Herr häufig Besuch von dem jungen deutschen Wissenschaftler Jochen Hellbeck. Diese Bekanntschaft hat für das deutsche Lesepublikum gleich doppelte Frucht getragen: Das Tagebuch ist jetzt, wenngleich gekürzt, in einer Übersetzung seiner originalen Form erschienen und nicht, wie von Podlubnyj ursprünglich gewünscht, in einer geglätteten und vom Autor kommentierten. Zum zweiten ist Hellbeck ein dichter, unerbittlich argumentierender Essay zu Podlubnyjs Aufzeichnungen gelungen.
Tagebücher aus jener Schreckenszeit sind Kostbarkeiten. Man tat, spätestens seit dem Beginn des großen Terrors 1936, gut daran, sich ihrer zu entledigen. Noch seltener sind Tagebücher, die von Menschen ohne den Bildungshintergrund der Intelligenzija verfaßt wurden. Und unter diesen wiederum stellt Podlubnyjs Tagebuch einen besonderen Glücksfall dar. Podlubnyjs „einziger Freund“ schildert den Werdegang eines Bauernjungen, der als 16jähriger mit seiner Mutter in Moskau eintrifft und die nächsten 10 Jahre seines Lebens mit dem Versuch verbringt, ein städtisch- gebildeter, ein „neuer“ Sowjetmensch zu werden. Das Tagebuch lebt von einer seelischen Spannung, die allzu reale Ursachen hat. Der kleine Stepan ist Sohn eines Kulaken. Er und seine Mutter halten sich illegal in Moskau auf. Gegenüber den Behörden fälscht Podlubnyj seinen „schlechten“ Klassenhintergrund in einen „guten“ proletarischen um. Deshalb muß er, der das Sowjetsystem als Instrument seiner Emanzipation vorbehaltlos begrüßt, ständig seine „Entlarvung“, damit aber seine Ausweisung aus Moskau befürchten.
Als Podljubnyj mit seinen Aufzeichnungen beginnt, ist es erst drei Jahre her, daß die Sowjetmacht ihre Kriegserklärung gegen „das Dorf“ abgegeben hat. Sein Vater ist 1930 als Kulak enteignet und auf drei Jahre nach Archangelsk verbannt worden, „Eisbären hüten“, wie man damals zu scherzen beliebte. Kurze Zeit vorher hatte Stalin im Rahmen der Kollektivierungskampagne die Liquidierung der Kulaken „als Klasse“ angeordnet. Es gab drei Methoden, diesen Auftrag zu erledigen: Man befolgte ihn wörtlich und erschoß den Klassenfeind unter der Anschuldigung, Widerstand geleistet zu haben. Man deportierte ihn, oder, mildeste Form der Abrechnung, man siedelte ihn in der Peripherie des Rayons an, ohne Arbeitsmittel, ohne Aussicht auf Aufnahme ins Kolchos.
Das Problem war nur: Wer war eigentlich ein Kulak? Anwendung von Lohnarbeit? Besitz mechanisierter Produktionsmittel? Landwirtschaftliches Gewerbe? Aber die dörflichen Autoritäten, die die Eingruppierung vorzunehmen hatten, waren günstigenfalls geneigt, aus einem Kulaken einen Mittelbauern zu machen und – ungünstigenfalls – umgekehrt.
Sein kulakisches Elternhaus zu verbergen, galt als als grob antisowjetisches Verhalten zu einem Zeitpunkt, wo die soziale Herkunft wie nach einem ehernen biologischen Gesetz die Zukunft eines jeden Jugendlichen regelte. Wessen Großvater, möglichst noch in einem der Traditionsbetriebe des alten Rußland, Arbeiter gewesen war, konnte sich einer neuen Aristokratie zugehörig fühlen. Umgekehrt galt als kulakisch infiziert, unter dessen Vätern oder Großvätern sich Angehörige der Ausbeuter (und schlimmer noch, deren Handlanger, vom Gendarmen bis zum Schullehrer) fanden. Aber wie in ihrer ganzen repressiven Praxis hielt sich die Sowjetmacht auch hier nicht an ihre eigenen Kriterien. Schon 1934 stellte sie in Aussicht, daß der kulakische Klassenhintergrund für die nächste Generation nicht mehr als soziale Barriere wirken sollte.
Für Stepan Podlubnyj ein Hoffungszeichen. Konnte er den Wettlauf mit der Zeit gewinnen und sich zu einem so nützlichen Glied der Gesellschaft entwickeln, daß seine fatale Abstammung (im Fall ihrer Entdeckung) nicht mehr entscheidend ins Gewicht fallen würde?
Stepan haßte seinen Vater und er haßte und liebte zugleich seine ukrainische Heimat. Mitleidlos kommentierte er 1933 die Hungersnot in der Ukraine, das Massensterben auf dem Dorf: „Ich weiß nicht warum, aber ich habe überhaupt kein Mitgefühl dafür. So muß es sein, damit die kleinbürgerliche, bäuerliche Psychologie leichter zu der von uns benötigten proletarischen Psychologie umerzogen wird. Und die, die verhungern – sollen sie ruhig. Wenn sich schon einer nicht gegen den Hungertod verteidigen kann, bedeutet das, er ist willensschwach. Was kann so einer schon der Gesellschaft geben.“ Dieser ungehemmte soziale Darwinismus verrät zugleich den neuralgischen Punkt in der Gefühlswelt des 19jährigen: Es ist der unbeugsame Wille, der alles entscheidet.
Podlubnyjs Abgott ist Maxim Gorki. Von ihm hat er nicht nur das emphatische Bekenntnis zum „Neuen Menschen“, zu dem sich jeder, einschließlich des kleinen Stepan, kraft Willensanstrengung emporarbeiten kann. Auch die Kraftprotzerei, die Behauptung, daß das Leben aus Kampf besteht und daß sich im Kampf der Ideologien, die jüngere, die lebensfähigere, die sozialistische Ideologie behaupten wird, geht auf Ansichten des (gar nicht so) verkappten Nietzsche-Anhängers Gorki zurück. Der Sänger des Übermenschen war Podlubnyj natürlich unbekannt. Er brauchte sich auch nur an den verehrten Meister zu halten – und an die stalinsche „Mit dem Kopf durch die Wand“-Rhetorik, die ganz aus dem Geist des Willens lebte.
Ständig quält Stepka die Furcht, sein Wille könne sich als zu schwach erweisen. Er zählt Gründe für seine Antriebslosigkeit auf: die Arbeit als „IM“ für den Geheimdienst, der ihm auf die Schliche seiner Abstammung gekommen ist, sein Ausschluß aus dem Komsomol wegen des gleichen „Delikts“: „Aber, nein, der eigentliche Grund ist meine geschwächte Willenskraft. Gut die Hälfte meiner Willenskraft ist durch die Qualen aufgezehrt. Hinzu kommt, wie so häufig, daß mir meine Lage, mein Milieu, unmerklich diese negativen Eigenschaften anerzogen hat. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Viel werde ich künftig an mir arbeiten müssen, um mir diese Grillen aus dem Kopf zu schlagen.“
Das zweite Jahr des großen Terrors, 1937, fehlt ganz in Stepkas Tagebuch. Anfang 1938 wird seine Mutter verhaftet und wegen Verschweigens ihrer kulakischen Vergangenheit zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Damit bricht Podlubnyjs Emanzipationsprojekt zusammen. Jetzt sind es nicht mehr die Ideale des Sowjetstaates, die das Urteil des mittlerweile 26jährigen Medizinstudenten bestimmen. Alles, was dem Lesehungrigen unter die Finger gerät, wird ihm zum Maßstab, an dem er die Maßnahmen der Sowjetbehörden mißt – und verurteilt. Aus Sienkiewicz' Frühe-Christen-Schundroman „Quo vadis?“ zieht er die Erkenntnis: „Beim Lesen kommt mir häufig der Gedanke, daß der römische Nero aus dem 1. Jahrhundert und besonders die ihn umgebenden Hofschmeichler an unseren russischen Nero und besonders die ihn umgebenden Höflinge erinnern.“ Podlubnyj findet Leidensgenossen, neue Freunde, Söhne von Kulaken und Trotzkisten, die an die Stelle seines ersten Herzensfreundes Nikolaj Galankin treten, der ihn vor der versammelten Komsomol-Gruppe 1936 denunziert hatte. Für ihn sind sie jetzt die Fortschrittlichen, die makellosen einstigen Mitkämpfer aber nichts als Staatspapageien.
Hier, an dieser Bruchstelle, werden die Grenzen von Jochen Hellbecks interpretierendem Essay deutlich. Hellbeck sieht seinen Stepka in einer Falle gefangen. Denn die Vorstellung steten Wachsens, der „Menschwerdung“, ist seiner Meinung nach bei Podlubnyj an den sowjetischen „Neuen Menschen“ gekettet. Nur um den Preis der Selbstzerstörung kann sich Stepka vom herrschenden Diskurs lossagen. Aber diese fein gesponnene Dialektik versagt angesichts der Einsicht des Tagebuchschreibers, daß es Freiheit jenseits der etablierten Gesellschaft gibt: paradoxerweise in den Zonen absoluter Unfreiheit, in den sibirischen Arbeitslagern, im Gulag.
Zu Unrecht beruft sich Jochen Hellbeck bei seinem Panorama der Aussichtslosigkeit auf Stephen Kotkins Buch „Magnetic Mountain“, der großen, im letzten Jahr erschienen Studie über den Aufbau der „ersten sozialistischen Stadt“ Magnitogorsk (Berkeley, 1995).
Tatsächlich weist Kotkin nach, daß jenseits des allgegenwärtigen Terrors die neue sowjetische Arbeiterklasse in den vom bolschewistischen Staat vorproduzierten Rahmen ihr heroisches Selbstbild fand; die Stachanow-Bewegung, der sozialistische Wettbewerb, die Produktionsschlacht, die unablässige Weiterqualifizierung – Bausteine einer sozialen Identität. Das „Bolschewistisch-Sprechen“ gehörte zur Lebenswelt des Proletariats, war nicht nur eine Taktik der Anpassung an die Macht. Gleichzeitig ging es aber um ein, wenngleich sehr riskantes Spiel. Man war Sowjetmensch, man beherrschte die Spielregel. Aber gleichzeitig stand ein jeder mit seinem Zweifel auch außerhalb dieses Spiels. Der Gegensatz zwischen den proklamierten Zielen der Partei und der Wirklichkeit war so schreiend, daß keine der (weithin geglaubten) Verschwörungs- und Sabotagelegenden ihn wegerklären konnte.
Deshalb endet Stepka Podlubnyjs Tagebuch auch nicht in der menschlichen Katastrophe. Es ist ein anrührender Bildungsroman, an dessen Ende der Held, um alle Chancen des sozialen Aufstiegs gebracht, doch den Zirkel des magischen Denkens durchbricht und den Weg ins Freie wählt.
„Tagebuch aus Moskau 1931–1939“. Herausgegeben und übersetzt von Jochen Hellbeck, dtv 2971, München 1996, 34 DM
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