: „Ich bin der Chef“
■ Ein Foto im „Bremer Anzeiger“, Auslegung und Philosophie / Eine Bildbetrachtung
Links im Bild steht ein junger Mann mit Poposcheitel. Er hat in der rechten Hand eine Flasche Sekt oder sogar Champagner. In der Linken hält er dem Betrachter eine Tüte Crunchies entgegen. Mit dem Hinterkopf scheint er sich an die Beton-Unterkante eines Balkons zu lehnen, unter dem sich die Zufahrt zu einer im Souterrain liegenden Garage befindet. Die Jeans des jungen Mannes weist einen äußerst interessanten Faltenwurf auf. Auch das 1/3-Arm-T-Shirt wirft sich beinahe barock. Sein Gesichtsausdruck vermittelt den Eindruck ruhiger, aber fester Zuversicht – das Kinn ist vorgeschoben, aber nicht so weit, daß kein Lächeln mehr möglich wäre.
In den Vordergrund schiebt sich sein stabil wirkendes Stadtrad, ausgerüstet mit Dreigang-Schaltung und zwei Handbremsen, was auf eine Freilaufnabe schließen läßt, ein Herr mit weißem T-Shirt und Halb- oder Dreiviertelglatze. Er trägt eine jener runden Brillen, die vor 20 Jahren den Intellektuellen auswiesen, heute aber modern sind. Er blickt den Betrachter gewissermaßen zuverlässig an, solvent und frei von Körpergeruch. Diesen Eindruck unterstreicht noch eine markant am Handgelenk befestigte Uhr mit dunklem Armband. Der ganze Habitus verkündet: Ich bin der Chef. Die schmalen Hüften, wahrscheinlich von einer dunklen Feincordhose umspannt, werden durch auffallend breite Schultern kompensiert. Mit der Linken scheint diese Person zu bremsen, gleichzeitig aber einen Koffer zu halten, auf dem zu lesen ist: Die Durstlöscher. Solche Koffer dienten in Kriegszeiten Auswanderern dazu, ihr bißchen Hab und Gut zu verstauen. Sie sind aus versteifter Pappe und haben an den Ecken Verstärkungen aufgenietet. Es hat den Anschein, als schöbe sich aus dem Koffer eine Stange, die schließlich in einem kleinen Anhänger mündet. Der Anhänger wirkt selbstgebaut, aber von kundiger Hand. Kräftige Eisenprofile versorgen die Konstruktion mit der nötigen Stabilität, eventuell auch Getränkekisten zu tragen. Verschraubte Querstreben zur Deichsel tun ein Übriges. Das Reifenprofil sowohl beim Fahrrad als auch beim Anhänger machen den Eindruck von minimaler Nutzung.
Der Anhänger ist in eine Art Buchsbaumhecke gedrückt, was auf einen schmalen Gehweg schleißen läßt. Der Buchsbaum und ein dahinterliegender Busch (Haselnuß?) sehen selten die trimmende Hand eines Gärtners. Hier wohnen Leute, die sich um gärtnerische Konventionen nicht scheren. Die Fenster der Häuserzeile sind allerdings schon doppelverglast, was auf einen akzeptablen Zustand der Immobilie schließen läßt. Man begegnet solcherart Architektur gern im Bremer „Viertel“, insonderheit in der Feldstraße.
Die beiden Herren stehen nicht da, als seien sie ertappt worden, sondern eher so, als hätten sie den Fotokünstler erwartet, damit er einen wichtigen Augenblick im Leben der Zwei mit den Mitteln seiner Kunst festhalte. Die ganze Aufstellung erweckt den Eindruck, als brächen hier zwei junge Männer auf in eine ungewisse Zukunft. Sie bezeichnen sich offenbar als „Durstlöscher“, wobei es sich um eine exquisite Sorte Durst handeln muß, da derselbe mit Sekt oder sogar Champagner gestillt wird. Gleichzeitig und absurderweise erzeugen die Herren aber auch Durst, indem sie Crunchies mitführen.
Die scheinbare Absurdität des ganzen Auftritts spiegelt die wahrhaftige Absurdität wider, die wir alle mit schöner Regelmäßigkeit beklagen, sobald das Gespräch auf das Leben, Jugend und Alter, Ökologie und Ökonomie und natürlich die Liebe kommt. Auch die beiden Jungmänner, die offensichtlich einer philosophischen Sekte namens F5 oder T6 angehören (wenn wir den Aufdruck auf dem T-Shirt des „Chefs“ richtig lesen) demonstrieren mithin für eine neue Offenheit den Grundfragen des Lebens gegenüber – so wie das Durstlöschen Salzhunger erzeugt und dieser wieder neuen Durst, so führt uns die Beantwortung von Sinnfragen in immer neue Sinntäler, hin zu neuen Sinnkrisen, in die Verzweiflung, in die Düsternis, in die Umnachtung (q.e.d.). Burkhard Straßmann
Noch Näheres zum besprochenen Foto nach 20 Uhr unter 72075, ruhig auch nach „Kondomen“ fragen!
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