: Der Barbier von Bebra (12)
■ Von Wiglaf Droste und Gerhard Henschel
Was bisher geschah: Lutz liest in Greiz. Die Lage ist ernst.
Im Publikum wurde geseufzt. Doch Lutz fügte stracks hinzu: „Der Himmel ist nicht tot. Er stirbt.“ Und dann rezitierte er jene Worte, an denen er von klein auf gefeilt hatte: „Taten tuten vielzersprechend.“
Hier und da schlappte müde ein Paar Hände ineinander, und die Zuhörer verkrochen sich in die Krautkuhlen ihrer Heimatstadt, während Lutz, schweißnaß und aufgewühlt, den Plan entwarf, ein Tanzlokal aufzusuchen. Es sollte aber auch etwas Deftiges zu essen geben.
Tanzlokale waren rar gesät in Greiz. Lange verhandelte der Veranstalter, der Heimatdichter Günter Ullmann, mit dem hungrigen, jederzeit preisempfangsbereiten Dichter, und am Ende einigte man sich darauf, zunächst einmal den legendären, mit Scherenschnitten aus der Wendezeit geschmückten Bürgerrechtlergasthof „Lebens Art“ aufzusuchen.
Platz am runden Tisch bei Lutz nahmen Günter Ullmann, Freya Klier und der Mundorgelfitti. Lange studierte Lutz die Speisekarte; dann entschied er sich für knusprige Erbswurst, Schwartenbraten und ein großes Glas Knotensirup.
Die Tischrunde war jedenfalls prima bedient, als Freya Klier, leicht schwankend, ihren Kräuterlikörpokal erhob und rief: „Liebe Freunde, auch wenn eure Bitternis im Raum steht, und auch ich habe mich von euch verlassen gefühlt und mich verhärtet, möchte ich euch doch umarmen in Verbundenheit!“
Da klirrten die Gläser aneinander; Verbrüderung und Verschwisterung hielten Einzug. Das Kleeblatt hatte Trost auch bitter nötig. Die schrecklichen Nachrichten der letzten Tage hatten alle furchtbar mitgenommen.
Angst ging um.
„Ich fühle es“, stieß Lutz hervor, „ich bin der Nächste!“ Hastig schlang er einen Brocken Braten hinab und spülte – gong, gong, gong – mit Sirup nach. „Ene, mene, tekel“, fügte er wissend hinzu. „Ihr werdet's erleben!“
„Wer immer das war, er hat es auf uns alle abgesehen“, stöhnte Freya Klier mit likörgeölter Stimme. „Auf uns und auf das, was wir symbolisieren: aufrechten Gang, menschliche Wärme, gelebte Uhutopie!“
Lutz ließ die Gabel sinken, sah Freya andächtig an und sagte: „Mit dir esse ich am liebsten. Keine spricht so schön wie du.“
„Aber mit Worten allein ist es nicht getan“, erwiderte Freya. „Um die Menschen aufzurütteln, müssen wir ein Zeichen setzen. Ich hab's: Wir treten in den Hungerstreik!“
„Hungerstreik?“ Lutz schluckte. „Ist das nicht ein bißchen mager? Es gibt doch auch phantasievollere Protestformen. Kreativen Widerstand oder so.“
„Du mit deinen vollen Formen“, sagte Freya augenzwinkernd und zwickte ihn im Hüftbereich. „Nein, nein, der Hungerstreik ist beschlossene Sache. Wenn wir keine Opfer bringen, büßen wir unsere Glaubwürdigkeit ein, Lutz. Gleich morgen früh geht's los.“
Eifersüchtig schaltete sich nun Günter Ullmann ein. „Ihr redet von morgen, aber der Mörder läuft noch immer frei herum“, nörgelte er. „Wenn ihr mich fragt – der ist von der Stasi! Und die neuen Herren aus dem Westen haben ihn bezahlt! Das ist doch klar wie Kloßbrühe!“
Bei diesem Stichwort löste Lutz den Blick von Freya, rief nach der Bedienung und orderte „viermal Kloßbrühe, aber doppelte!“
Ernst prostete man einander zu. In diesem feierlichen Moment erklong vom Tresen her die Nationalhymne aus dem schmurgelnden Fernsehgerät. Es war spät geworden in der kleinen Bürgerrechtlerei. Das Kleeblatt stand auf, reichte sich die Hände und ließ stummen Tränen freien Lauf.
„Wir sind ein Volk“, hauchte der Fitti. „Volk, Volk“, echote der Rest.
Lange standen sie noch da und umschlangen einander.
Fortsetzung folgt
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