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Frühe Höllenvisionen von Hector Berlioz

■ Das City of Birmingham Symphony Orchestra beim Musikfest

Mal was anderes: Das Bremer Publikum, mit Schiffen dorthin transportiert, saß in der Flugzeughalle des ASL – Aircraft Services Lemwerder, gegenüber dem idyllischen Hafen von Vegesack. Zusätzlich zu den Flugzeugen in der Halle konnte in der Pause in einem sozusagen aufgeschnittenen Flugzeug ein Video über Flugzeugbau betrachtet werden. Nicht wenige taten das auch nach den Werken von Hector Berlioz und Maurice Ravel. Die Lautsprecher in der riesigen Halle waren am Anfang leicht übersteuert, dann hervorragend eingestellt, was nicht ausschloß, daß es zum Beispiel an meinem nicht besonders guten Platz gelegentlich Verwirrungen gab: Was vorne rechts im Orchester spielte, erklang links aus den Lautsprechern und umgekehrt.

Aber das ist Musikfest live und hat mit der Qualität der Wiedergabe des City of Birmingham Symphony Orchestras nicht viel zu tun. Es beeinflußt sie allerdings so stark, daß man bei allem Wohlwollen nicht über alles hinweghören kann. Auch nicht hinwegsehen: Wenn ein Mensch, der sich nach dem ersten Stück einfach in den Mittelgang auf den Boden setzt und freiwillig nicht weichen will, von dem Chef der Agentur mit zwei Helfern weggeschleppt wird - draußen drückte man ihm sein Eintrittsgeld in die Hand. Und so etwas bei dem Auftritt eines Orchesters, das zusammen mit seinem Dirigenten sich in dem sozialen Brennpunkt Birmingham unermüdlich einsetzt für die Vermittlung von Kunst an die ArbeiterInnen.

Simon Rattle hatte ein Programm ausgesucht, das in sich gut ausbalanciert war: Werke von Berlioz, Ravel, Michael Tippett und Joseph Haydn repräsentierten vier aufeinanderfolgende Epochen. Der zu Recht weltberühmte Dirigent, der schon 1993 beim Musikfest seine HörerInnen begeisterte, entfachte für die kontrapunktlosen Klangballungen der Ouvertüre „Der Korsar“ von Berlioz eine unglaubliche rhythmische Energie: Die grellen Bläser ließen schon die Höllenvisionen der später geschriebenen „Sinfonie fantastique“ ahnen. Ravels Märchen „Ma Mère l'Oye“ erzählte Rattle mit schier endlosen Farben, im pianissimo wunderschön bis an den Rand der Hörbarkeit. Dieses Stück aus einer kindlichen Zauberwelt mit seiner besonderen Atmosphäre zwischen Imagination und Realität, zwischen Leichtigkeit und Ernst, zwischen Heiterkeit und Trauer konnte sich in diesem Raum allerdings kaum durchsetzen. Konzentration und Innenschau ist hier komponiert und für das Hören ebenso gefragt: In einer solchen Halle tritt das Gegenteil ein.

Joseph Haydns berühmte Sinfonie Nr. 88: An der Gretchenfrage: „Wie hältst Du's mit der Aufführungspraxis?“ schiffte Rattle außerordentlich geschickt vorbei, so durchsichtig, so witzig, so ironisch, so drängend und pulsierend war seine Wiedergabe mit dem glänzend folgenden Orchester. Durch eine extreme Ausformulierung der Dynamik ließ Rattle neben jeglicher strukturellen Linearität unterschiedliche Räume entstehen, die Haydn einmal mehr als den wirklichen Vorläufer Beethovens auswiesen.

Waren mit Berlioz, Ravel und Haydn Komponisten vorgestellt, die zu Weichenstellungen ästhetischen Fortschritts Entscheidendes beigetragen hatten, entpuppte sich die „Konzertante Fantasie über ein Thema von Corelli“ des Engländers Michael Tippett als ein aufgedunsenes neoklassisches Machwerk. Aber Lokalpatriotismus muß eben auch sein, es ist ja auch nicht so leicht, zuzugeben, daß – lange ist's her – John Dowland und Henry Purcell vielleicht die ein für allemal größten englischen Komponisten waren.

Ute Schalz-Laurenze

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