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Die Not der frühen Jahre

■ Gestrige (oder immer-noch-währende?) verträumte Alpträume einer ehemaligen Kultur-Redakteurin

Auf Zehenspitzen treten wir auf die taubenblaue Auslegeware in der Redaktion der taz – „hier, guckt mal raus, ist das nicht eine tolle Aussicht? Die tollste Aussicht von ganz Bremen.“ Im Geiste ziehe ich die Schuhe aus und stehe stramm vor so viel Pracht. Kein Wackel-Schreibtisch aus dem Nachlaß-Fundus verblichener Bremer; kein String-Regal mit durchgebogenen Brettern; kein schmutzigrotes Samtsofa, aus dem Sprungfedern sprießen. Nix mehr von Wohngemeinschafts-Charme, von Zigarettenqualm, von Pommes- oder Bockwurst-Mief, vom bitteren Geruch verbrannten Kaffees aus Nicaragua – nein, hier riecht es nach gesundem Holz, nach unverbrauchter Luft, nach Tee und frischer Farbe.

Nicht auszuhalten, eigentlich. Aber was ist denn das, da hinten in der Ecke? Ein Chaos aus Kartons, in wohlvertrauter Schlampigkeit gestapelt. Und hier? Ein schwer verwelkter Blumenstrauß; ein Stuhl, der schon zusammenbricht, wenn man ihn nur mit Blicken streift; ein Suppenteller voller Kugelschreiber auf dem Tisch – du greifst hinein, nimmst diesen Stift, dann jenen: keiner schreibt.

Ach ja, das ist die taz wie wir sie kennen, wie sie uns lieb und teuer ist – uns, die man heute zu Jubiläumszwecken reanimiert und aus dem Mausoleum der Geschichte holt. Wie war das damals überhaupt?

Und wie soll man das nennen, was wir heute tun? Familien- oder Klassentreffen? WG-Zusammenkunft? Ein Altenausflug in die Vergangenheit? Von allem etwas, und noch ein bißchen mehr. Und während das hysterisch-aufgekratzte Lachen der Redaktionssitzung verebbt, während die Telefone piepen und Sätze wie: „Mist, Thema gestorben“ durch die Räume schwirren, treten – wie Sprungfedern aus dem Samtsofa – verrostete Erinnerungen aus der Gründerzeit der taz ans Licht.

„Also wir ham hier unheimliche Krisen gehabt und Krach und so, aber das hatte nichts mit der taz zu tun“, höre ich Ex-Kollegin S. mit Enthusiasmus sagen. S. darf das. S. darf „die taz“ freisprechen von aller Schuld an Krach und Krisen, denn S. war schon damals das Ferment, das jeden noch so plattgewalzten Teig zum Aufgehen bringt. S. brachte Kuchen, Optimismus – und kämpfte so unerschrocken wie unbeirrt darum, daß unsere Jungs sich auf dem Klo nicht so positionierten, wie die Natur sie hieß, sondern wie echte Frauen: sitzend. Inzwischen hat sich zwar die Entwicklung umgekehrt und Männer müssen bitter konstatieren: „Erst haben wir den Frauen gehorcht und uns beim Pinkeln hingesetzt, und jetzt finden Frauen plötzlich nur solche Männer toll, die das im Stehen machen.“ Aber wir können sagen: Wir sind dabeigewesen, als Männer genötigt wurden, sich buchstäblich zu beugen. Und nur im großen I als RedakteurInnen, KollegInnen, TechnikerInnen aufrecht dazustehen.

Verständlich, daß unsere Ex-taz-Männer sich schadlos halten mußten für ihr erzwungenes Softietum und, wie es Art der Hennen ist, ihr Wissen als Computertechniker bebrüteten. Computer zu bedienen, sei kinderleicht, erklärten sie tagein, tagaus, und murmelten geheimnisvolle Tastenfolgen vor sich hin, die wir, Technikerinnen mit kleinem i, schon rein akustisch nicht verstanden. Nur eins war selbst für uns begreiflich: Wenn sich die Schrift auf dem Computerschirm nicht mehr bewegte, drohte der Zeitungs-GAU: „System stürzt ab“. Und wenn auch niemand weiß, wer auf die Formulierung kam, mit der wir Redakteurinnen in einem solchen Fall um Männer-Hilfe flehten, so steht zumindest fest, daß diese Formulierung eher dem Rotlichtmileu der Sado-Maso-Etablissements entstammt als einer engagiert emanzipierten Zeitungsredaktion: „Dirk, schieß' mich ab!“, schrien wir Damen in höchster Not, und manchmal wache ich noch heute nachts in Schweiß gebadet auf, weil in meinem Traum Marquis de Sade mit Cape, mit langem Pferdeschwanz und tückischem Gewieher um die Ecke biegt.

Ob die wohl heute ähnlich seltsam träumen? Oder kam das bei uns auch von den obskuren Etablissements, in denen wir uns die ersten Magengeschwüre holten? Backstein-Koteletts paniert „bei Anni“ in der Kellerbar, Nasi Goreng „ssehr ssarf“ im „Surabaja“ „wenn du rauskommst, links“, Baguettes mit Papptomate und Plastiksalat im Imbiß „wenn du rauskommst, rechts“, und das geliebte Wiechern- Stift mit seiner Hausmannskost aus Gips. Nein, heute speist die taz, „gleich, wenn du rauskommst, rechts“, in einer „Osteria“, ißt Edelfisch und Pasta, trinkt ungepanschten Wein – und produziert tagtäglich eine taz, die optisch längst das Flair des kräftigen Kartoffeldrucks verloren hat, mit dem die Gründer-taz so rührend häßlich prunkte. Ob ich wohl lieber in dieser oder „unserer“ taz die Shrimps verdienen würde? Ach, vielleicht doch eher per Zeitmaschine in die Sperrmüllära der Gründerzeit zurück, als man sich noch so graugesichtig streiten konnte, so schnell beleidigt – und versöhnt – gewesen ist, als man noch glaubte, daß jeder Tag, an dem die Zeitung fertig wurde, ein Glückstag sei – und man sich, bloß, weil man erschöpft auf allen Vieren kroch, schon für einen erfolgreichen Journalisten hielt. Schön wäre das, wenn man es noch einmal probieren könnte, auch wenn es oft recht schauerlich gewesen ist. Und seltsam: Mit jeder Zeile hat sich die Ursprungsabsicht – „jetzt hau' ich drauf“, „jetzt sag' ich, was ich immer schon mal sagen wollte“ – ins Gegenteil verkehrt: Eigentlich wollte ich immer schon mal sagen, daß... naja, das geht jetzt niemanden was an. Sybille Simon-Zülch

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