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Ja zur Provinzialität

Im Jahr 100 nach seiner Gründung träumt der Amateurligist Hannover 96 vom DFB-Pokal  ■ Aus Hannover Dietrich zur Nedden

„Freitags Derby, sonntags Herby“, befahl Hannovers Oberbürgermeister Herbert „Herby“ Schmalstieg via Zeitung dem Stimmvolk, bevor er zur Stichwahl gegen die CDU-Kandidatin „Lovely“ Rita Pawelski antreten mußte. Der Slogan griff trotz des falsch gebrauchten Adverbs. Keine 48 Stunden nach dem 2:0-Sieg der 96er im Lokalderby gegen die Sportfreunde Ricklingen am letzten Freitag hatte Schmalstieg sein Amt erfolgreich verteidigt. Sein Vorsprung betrug keine 9.000 Stimmen, während beim Spiel im Niedersachsenstadion – nach langer, tendenziöser Rechnerei – angeblich 23.446 Zuschauer einen neuen Besucherrekord in der Regionalliga aufstellten. Der nächste Höhepunkt im gesellschaftlichen Leben der Landeshauptstadt folgt heute abend: Die Roten treffen im DFB-Pokal auf 1860 München. 40.000 werden erwartet. Es sei denn, es regnet.

Prima Stimmung in Hannover? Den Anhängern von 96 geht es mittlerweile wieder blendend, nachdem ihr Verein sie vor wenigen Monaten noch in die tiefste Depression seit hundert Jahren gestürzt hatte. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr, für das die Rückkehr in die 1. Liga fest projektiert war, verabschiedete sich der Pokalsieger von 1992 ins Dunkel der Drittklassigkeit. Die Gegner sind zwar wieder Werder, der HSV und St. Pauli, aber leider nur deren Amateure. Ein grausames Schicksal, dessen Härte nur die Clubberer aus Nürnberg nachempfinden können.

Wie allgemein üblich, wurde als Ursache für den Niedergang die „jahrelange verfehlte Vereinspolitik“ ausgemacht. Ersparen wir uns, nicht nur aus Platzgründen, die präzise Analyse. Fragen Sie Jörg Berger, der 1986 das zweifelhafte Vergnügen hatte, acht Wochen lang Trainer der Roten zu sein. Danach fragen Sie Frank Pagelsdorf oder Volker Finke, die Hannover 96 einst hätte engagieren können, als es noch nicht zu spät war. Wie kommt es bloß, daß der Klub den Rekord an Trainerwechseln im bezahlten Fußball hält?

Selbstverständlich wechselte auch nach dem Absturz das Personal in sämtlichen Etagen. Aus der Mannschaft, die sich vor vier Jahren gegen Gladbach in den Europapokal kämpfte, sind noch zwei Spieler übrig: Torwart Jörg Sievers und Rückkehrer Matthias Kuhlmey. In der Kommandozentrale sitzt – neben dem neuen Vorstandsvorsitzenden Hans Wöbse – der frühere Profifußballer Franz Gerber als Manager.

Einen Trainer konnte er nach wochenlanger Bedenkzeit der Kandidaten auch präsentieren. Ein Lehrer des hessischen Fußballverbandes übernahm die sportliche Leitung, und sein Name Reinhold Fanz veranlaßte die in Hannover nie aus der Übung kommenden Zyniker zu der Annahme, der Franz habe den Fanz um des Reimes willen geholt. Die Strafe für die Vorlauten ließ nicht auf sich warten. Die 96er führen die Regionalliga Nord an, schießen gerne mal in einem Spiel fünf Tore, wenn sie nicht gerade gegen einen Mitfavoriten wie Eintracht Braunschweig verlieren. Das 2:3 auswärts gegen die Möhlmänner war bislang ihre einzige Niederlage. Ein Spiel, das die Verfechter einer ökologisch sinnvollen Fußballregionalisierung bewegte, denn die 23.000 Zuschauer bedeuteten einen neuen, bis zum Freitag geltenden Rekord in der 3. Liga. Der nächste kommt bestimmt, denn Hannover sagt ja zu seiner Provinzialität und zu einer Saison der kurzen Wege.

Für miese Schlagzeilen sorgte in den letzten Wochen allein der Rausschmiß von Zeugwart Jörg „Putzi“ Böttcher. Grund der fristlosen Kündigung: Er hatte die schmutzige Wäsche der auf derselben Sportanlage trainierenden Ricklinger mitgewaschen. Nach einem Bittbrief der Mannschaft stellte der Vorstand Böttcher wieder ein, was eine Lokalzeitung mit der Überschrift „Eine Mannschaft wird mündig, das verspricht Erfolg“ kommentierte.

Die Schatzmeister der Konkurrenten reiben sich die klammen Hände, wenn der zweifache Deutsche Meister in ihr Städtchen kommt und mindestens tausend eigene Fans mitbringt. Und die Kasse der 96er klingelt ebenfalls häufig. Selbst gegen die Amateure von St. Pauli kamen fast 9.000, um nach dem 5:1 zufrieden nach Hause zu gehen: „Und wir steigen wieder auf...“

„.. und holen den DFB-Pokal!“ Wie die ganz Großen gehört Hannover 96 zu den Vereinen, die sich in drei Wettbewerben tummeln. Neben der Meisterschaft steht man im Halbfinale des Verbandspokals und eben in der zweiten Runde des DFB-Pokals. Wenn sie den gewinnen, aus dem Verbandspokal aber rausfliegen, stellt sich der Fußballwelt einmal mehr die Frage: Ist der Titelverteidiger eigentlich automatisch qualifiziert?

Den Trainer der Löwen aus München kennen die hannoverschen Fans übrigens sogar persönlich. Werner „The Brain“ Lorant ließ als 35jähriger seine Karriere in Hannover ausklingen. Seinem Beispiel folgten zahllose andere Profis, darunter Günther „Weltmeister“ Hermann und Uwe Harttgen. Die beiden sind längst wieder weg, außer Hörweite der offenherzigen Gesänge der Nordkurve. Über das Intimleben der Sportfreunde wußten die Kutten jedenfalls genau Bescheid: „Schwule, schwule Ricklinger...“ Die Urwaldaffen-Nummer müssen sie sich allerdings verkneifen, seitdem Otto Addo zum Mittelfeldstar aufgestiegen ist. Ja, die Fans dieses „schlafenden Riesen“, sie wachen nicht auf. Dafür ist ihr Traum stets zum Greifen nah.

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