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Die Nachtseite der Hochkultur

■ Plakatekleber riskieren für Kunst und Kommerz Leib und Leben – für 60 Pfennig pro geklebtes Plakat, das häufig schon nach einer Stunde überklebt ist

Wenn es Nacht wird in der Hansestadt, treten geheimnisvolle Menschen auf den Plan. Gleich nach Einbruch der Dunkelheit erscheinen sie auf Straßen und Plätzen und sind schwer bepackt. So wie Martina und Horst (Namen von der Redaktion geändert). Sie kleben Plakate.

Litfaßsäulen, Plakatwände oder Schaukästen: Jedes freie Fleckchen dieser Stadt wird von Werbeträgern in Beschlag genommen. Wo die Wahrnehmungsfähigkeit der PassantInnen nicht schon durch Zigarettenreklame ausgereizt ist, bleibt Platz für die Anarchie des „wilden“ Plakatierens.

Kaum jemand überblickt dabei die Vielzahl von Papieren und Fetzen auf Bauzäunen, Verteilerkästen und Mauerecken. Teilweise schon zerfleddert, übereinandergeklebt und stets unsortiert, wird angekündigt und beworben, was nach rätselhaften Ratschlüssen angekündigt und beworben werden muß: Konzerte, Tanzveranstaltungen, Vorträge oder gar Demonstrationen zählen zum Programm.

Doch erreichen diese Werbeträger überhaupt ihre EmpfängerInnen? Es liegt im Ermessen der Veranstalter. Genauso wie das zumeist niedrige Salär, für das sich vor allem StundentInnen in eine halblegale Nebenberufswelt stürzen.

Durchschnittlich 60 Pfennig pro Plakat bekommen Martina und Horst für das Kleben eines Plakates. Die Arbeit muß schnell vonstatten gehen, sonst reicht es nicht für einen halbwegs guten Stundenlohn. „Der Boß hat gesagt, wir sollen heute nacht das ganze Viertel plattmachen.“

Bei der Kunsthalle gibt es einen neuen Bauzaun. Doch die „Erschließung“ unberührter Flächen ist riskanter als das Überkleben vollgeklebter Wände. Hier ist die Polizei besonders wachsam. Außerdem reagieren Anwohner häufig mit Anzeigen wegen Sachbeschädigung. Und das kann teuer werden. Martina und Horst stehen zögernd vor der riesigen Wand. Als eine Streife naht, hauen sie ab. Einmal wurden sie erwischt. „Da wurden Personalien aufgenommen, aber es kam nichts nach. Vielleicht ist das anders, wenn Du statt Kultur politsche Sachen klebst.“

Die Stadtwerke kennen keinen Unterschied. Strom- und Verteilerkästen sind vom unerlaubten Plakatieren besonders betroffen. „Wir dulden das nicht, aber wir können auch nicht besonders viel dagegen tun“, sagt Ute Tobias. Sie ist verantwortlich für die seit 1989 jährlich stattfindende Schaltkasten-Malaktion, an der immer rund 50 Schulklassen und andere InteressentInnen teilnehmen. Doch inzwischen werden auch bemalte Kästen wieder überklebt. „Und wenn das erste Plakat hängt, ist die Hemmschwelle dahin“, seufzt Ute Tobias.

Deshalb mehren sich die Pläne, Martina und Horst den mühsamen Broterwerb zu erschweren. „Wir wollen den Plakat-Wildanschlag eindämmen und die Stadtbildgestaltung verbessern“, sagt Wolfram Sprunck von der Deutschen Städtereklame (DSR). Seine Firma verhandelt derzeit mit dem Bausenator und dem Stadtamt mit dem Ziel, die Verteilerkästen einer kommerziellen Nutzung sprich Plakatierung zuzuführen. Zu diesem Zweck sollen Rahmen angebracht werden, die dann an solvente Werbekunden vermietet werden können. Das Motto: „Ein Drittel nutzen, zwei Drittel putzen.“

Auf die kleinen VeranstalterInnen kommen schwere Zeiten zu. Noch knapper wird dann der Platz, noch mühevoller wird die Werbung für die Veranstaltungen. Bereits jetzt ist die Konkurrenz so groß, daß es unter Plakatiertrupps schon zu Handgreiflichkeiten gekommen ist. Denn: „Man muß einfach viele Plakate kleben, um den Laden voll zu kriegen“, sagt ein Konzertveranstalter. Und: „Die Leute schauen zu selten in den Veranstaltungskalender.“ Deshalb wundert es ihn nicht, daß selbst im Internet-Zeitalter noch solche Mengen Papier an Häuserwände gekleistert werden.

Erschöpft und nicht glücklich haben Martina und Horst inzwischen ihre Runde beendet. Ein Teil ihrer Plakate ist bereits wieder überklebt. „Wenn viel los ist, wechselt die Bebilderung manchmal stündlich“, erklärt Horst. Mit dem letzten Rest Kleister wird noch einmal nachgebessert, was schon wieder abgeblättert ist. „Der Boß hat gesagt, vergiß die Ecken nicht!'“

Helene Hecke

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