: Ende einer Dienstfahrt
Am 22. Oktober 1971 wurde der Polizist Norbert Schmid in Poppenbüttel erschossen. Er war das erste Todesopfer der RAF. Der mutmaßliche Schütze wurde wegen der Tat nie verurteilt. Als Kronzeuge im Stammheim-Prozeß genoß er den Schutz des Rechtsstaates ■ Von Marco Carini
ine Routinestreife. Aus einem Zivilfahrzeug beobachten die beiden Polizeibeamten Norbert Schmid und Heinz Lemke die Fahrgäste, die gegen 1.30 Uhr die letzte S-Bahn in Poppenbüttel verlassen. Die beiden Zivilfahnder sollen, so heißt es im Polizeibericht, ihr Augenmerk auf „entwichene Fürsorgezöglinge und sonstige verdächtige Personen“ richten, die scheinbar ziellos in der Gegend herumirren. Der Villenvorort am Alsterlauf ist ein bevorzugtes Tätigkeitsfeld für Einbrecher.
Den beiden Beamten fällt eine eine junge, dunkelhaarige Frau in einem schwarzen Mantel auf. Schmid verläßt den Wagen, um der Frau zu folgen – doch er verliert sie aus den Augen. Wenig später entdecken die beiden Polizisten die Frau erneut, wie sie aus einer Tiefgarage des nur wenige Meter vom Bahnhof entfernten Alstertaler Einkaufszentrums kommt.
Kurz danach verläßt auch ein Pärchen, das die Beamten zunächst nicht weiter beachten, den Betonkomplex und folgt der Frau in einigem Abstand. Die Beamten halten neben der Fußgängerin, Schmid fordert sie auf, sich auszuweisen.
Von nun an geht alles blitzschnell. Die Angesprochene flüchtet, Schmid setzt hinterher. Auch das Paar folgt den Beiden im Laufschritt. „Die wollen uns helfen“, denkt Polizeimeister Lemke noch, als sein Kollege die flüchtende Frau am Arm zu fassen bekommt. Plötzlich schreit Schmid: „Die sind ja bewaffnet“, da eröffnet des Paar auch schon das Feuer. Von drei Pistolenkugeln getroffen bricht Norbert Schmid tot zusammen.
Lemke wird am Fuß getroffen, die Täter entkommen. Eine dreiviertel Stunde später – die Fahndung ist längst eingeleitet – entdecken zwei Polizisten in einer nahen Telefonzelle die Frau mit dem schwarzen Mantel. Sie entreißen ihr eine Umhängetasche, in der sich eine geladene Pistole befindet, und nehmen sie fest.
Obwohl die Festgenommene einen gefälschten Ausweis auf den Namen Dörte Gerlach bei sich trägt, unterschreibt sie in der Aufregung das Polizeiprotokoll mit ihrem richtigen Namen: Margit Schiller. Schiller wird seit langem gesucht – als Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe, der späteren RAF.
„Die Stimmung war deprimierend“, erinnert sich der damalige Streifenbeamte Wilfried Eisen, der erst am nächsten Morgen von seinen Kollegen auf der Wache erfuhr, „daß sie 'den Schmidl' erschossen haben“. Hamburgs Boulevardpresse bläst unterdessen zur Jagd, und Bürgermeister Peter Schulz fordert die Öffentlichkeit auf, „endlich aufzuhören, die Baader-Meinhof-Gruppe als Zusammenschluß mit politischen Zielsetzungen zu sehen“.
Die Zeichen stehen auf Sturm, denn 1971 ist das Jahr, in dem der Kampf zwischen den linksmilitanten Untergrundkämpfern und dem „System“ blutig eskaliert, die ersten Toten zu beklagen sind. Im Juli war in Bahrenfeld die der RAF nahestehende 20jährige Petra Schelm bei einer Verkehrskontrolle von der Polizei erschossen worden. Im Dezember wird Georg von Rauch, er gehört zum Umfeld der „Bewegung 2. Juni“, in Berlin von einem Polizisten getötet, wenige Tage später fällt ein Kaiserslauterner Polizeiobermeister den Kugeln von Baader-Meinhof-Mitgliedern zum Opfer.
Allein bis zum „heißen Herbst“ 1977 verlieren 47 Personen ihr Leben: 17 Mitglieder der „Stadtguerilla“ finden den Tod, zwei gänzlich Unbeteiligte werden bei Fahndungsmaßnahmen von der Polizei erschossen. 28 Menschen werden bei Sprengstoffanschlägen und Schußwaffenwechseln von der RAF getötet – der 32jährige Norbert Schmid ist das erste Opfer in dieser langen Liste.
Daß Margit Schiller den Polizisten nicht getötet hat, ist schnell klar. Augenzeuge Lemke gibt zu Protokoll, daß ein Mann auf seinen Kollegen gefeuert habe. Aufgrund von Fahndungsfotos identifiziert er das Baader-Meinhof-Mitglied Gerhard Müller als Todesschützen.
Auch einige RAF-Mitglieder, die in der Todesnacht in einer konspirativen Wohnung am Heegbarg 13 gesessen haben, bestätigen diese Beobachtung. Unmittelbar nach der Schießerei, so geben sie später zu Protokoll, sei Müller „praktisch mit dampfendem Revolver“ hereingestürmt und habe sich damit gebrüstet, „einen Bullen umgelegt zu haben“. Margit Schiller wird später in Stammheim aussagen, daß „Müller Schmid erschossen hat“.
Doch Müller, der 1972 zusammen mit Ulrike Meinhof festgenommen wird, wird für die Todesschüsse nie zur Rechenschaft gezogen. Nur wegen der Beteiligung an zwei Sprengstoffanschlägen der RAF, bei der vier Menschen ums Leben gekommen sind, wird er im März 1976 vom Hamburger Landgericht zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Aber bereits im Februar 1979 ist er wieder auf freiem Fuß.
Der Spiegel spricht im Mai 1979 deshalb von einer „beispiellosen Manipulation des Rechts“: „Wohl vor jedem deutschen Schwurgericht wäre Gerhard Müller unter normalen Umständen die lebenslange Freiheitsstrafe wegen mehrfachen Mordes sicher gewesen – aufgrund seiner eigenen Aussagen. Doch es ging nicht mit rechten Dingen zu. Das Lebenslang wurde ihm geschenkt: Es war der Kaufpreis, um seine Zunge zu lösen. Das Geschäft mit Gerhard Müller war ein planmäßig vollzogener Rechtsbruch.“
Ein Rechtsbruch, in den BKA-Chef Horst Herold, Generalbundesanwalt Siegfried Buback und auch die damaligen Minister für Inneres, Gerhard Baum, und für Justiz, Jochen Vogel, verstrickt sind. Denn Müller, der sich bald nach seiner Festnahme von der RAF abwandte, soll eine Rolle spielen, die es im deutschen Strafrecht zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gibt. Als Kronzeuge soll gleich in einem halben Dutzend RAF-Verfahren die Angeklagten belasten. In Stammheim ist er als Hauptbelastungszeuge gegen Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe eingeplant; Irmgard Möller und Bernhard Braun soll er wegen der Beteiligung am Sprengstoffanschlag auf das Heidelberger US-Hauptquartier im Mai 1972 hinter Gitter bringen. Der Lohn fürs „Auspacken“ ist Strafrabatt.
Doch ohne Kronzeugenregelung läßt sich das nicht legal bewerkstelligen. „Leute wie Herold und ich“, wird Generalbundesanwalt Buback später prahlen, „finden immer einen Weg.“ So hält Buback in Absprache mit dem Justizministerium eine Sonderakte mit der Registriernummer „3 ARP 74/75“ zurück, in der Beamte des Hamburger LKA Müllers Aussagen aufgenommen hatten, in denen dieser detailiert über seine Mitwirkung bei der Vorbereitung der Sprengstoffanschläge berichtet und sich damit selber schwer belastet hatte.
Auch im Stammheim-Verfahren werden Teile der brisanten Gesprächsprotokolle zurückgehalten. Nicht einmal ihrem Chefankläger gewährt die Bundesanwaltschaft vollständigen Einblick in die Akte „3 ARP 74/75“ und täuscht ihn damit über den Ermittlungsstand. Die Rechnung geht für beide Seiten auf: Als Baader, Raspe und Ensslin in Stammheim zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt werden, hat der „Kronzeuge“ Müller entscheidenden Anteil daran – obwohl er sich mehrmals in Widersprüche verstrickt und zum Teil die Unwahrheit gesagt hatte.
Daran, daß Müller in Hamburg mit einem milden Urteil davonkommt, haben die Karlsruher Ermittler nicht weniger Anteil. Denn in Unkenntnis der Geheim-Akte tappten die hanseatischen Richter bei der Wahrheitsfindung im dunkeln. Sie konnten, heißt es in der Urteilsbegründung, nicht belegen, ob Müller „Einfluß darauf hatte, ob, wann und wie die Anschläge durchgeführt wurden“.
Nachdem Lemke, der Müller als Todesschützen identifiziert hatte, seine Aussage vor Gericht abschwächte und ein weiterer Augenzeuge den Angeklagten nur mit „90 prozentiger Sicherheit“ wiederzuerkennen glaubte, bleiben dem Gericht Zweifel. Es spricht Müller vom Vorwurf des Polizistenmordes frei. Nicht nur die RAF-Verteidiger im Stammheim-Prozeß vermuteten später, daß dem Angeklagten der Mord an Norbert Schmid „geschenkt“ worden war, um ihn als Zeugen der Anklage zu gewinnen.
In Stammheim taucht Müller, inzwischen vom BKA mit neuem Namen und Paß ausgestattet, noch mit großer Sonnenbrille und Perücke auf und später dann ganz ab. Seine Spuren verlieren sich 1979. In Verfahren gegen RAF-Randfiguren, in denen er als Belastungszeuge aussagen soll, erscheint er nicht mehr – angeblich ist er auch für das Bundeskriminalamt nicht mehr erreichbar.
Das Bild des erschossenen Polizisten („Er verlor sein Leben für Recht und Ordnung.“) hängt hingegen noch heute in der Polizeiwache 35 am Poppenbüttler Wenzelplatz. „Jedes Mal, wenn ich draufschaue, muß ich an diesen Morgen denken“, sagt Oberkommissar Eisen. Daß der mutmaßliche Todesschütze – als Kronzeuge gebraucht – nicht zur Rechenschaft gezogen werden durfte, löst bei den Beamten keine Bitterkeit aus. Vize-Revierleiter Peter Schröder, der Schmid ebenfalls noch persönlich kannte, gibt sich pragmatisch: „Wenn's darum geht, Schlimmeres zu verhindern, ist das schon okay.“
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