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Unter Jammern und Klagen

Weil Ausländer hier wenig investieren, gilt der Standort als schlecht. Doch deutsche Exporte kosten auch viele Arbeitsplätze im Ausland  ■ Von Dietmar Bartz

Prešov (taz) – In der Standortdebatte scheint jedes Argument recht. Die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland ist ein besonders beliebtes Argument, um die für Unternehmen angeblich unhaltbaren Rahmenbedingungen in Deutschland zu illustrieren. Immer wenn die Bundesbank neue Zahlen veröffentlicht, gellen neue Schreckensschreie auf. Die Industrie und ihre Parteien nutzen die negative Bilanz der Investitionen, um die hohen Lohnnebenkosten zu drücken.

Wieviel investieren deutsche Firmen im Ausland, wieviel die Ausländer in Deutschland? Dieser Vergleich ist der Investitionsbilanz zu entnehmen, die ein Teil der deutschen Zahlungsbilanz ist. Diese wiederum umfaßt die gesamte Verflechtung der deutschen Wirtschaft mit dem Ausland. Aus ihr geht hervor, daß sich der Abfluß des Investitionskapitals aus Deutschland in den letzten Jahren verheerend entwickelt hat. Aber taugt diese Beobachtung als Argument in der Standortdebatte?

Zunächst: Im Durchschnittsjahr 1992 errichteten deutsche Firmen noch für 25 Milliarden Mark neue Werke im Ausland oder erweiterten ihre bereits vorhandenen Anlagen. Umgekehrt, von jenseits der Grenzen, flossen nur fünf Milliarden Mark in die deutschen Töchter ausländischer Firmen. Defizit für die deutsche Volkswirtschaft also: 20 Milliarden Mark. 1995 war die Lage viel dramatischer: 50 Milliarden Mark investitierten deutsche Unternehmen im Ausland, umgekehrt waren es nur 13 Milliarden Mark. Auf den Rekordwert von 37 Milliarden Mark ist das Defizit also hochgeschnellt. Mit minus zehn Milliarden Mark für die ersten vier Monate 96 hat sich dieser Investitionsverlust in diesem Jahr offenbar auf hohem Niveau stabilisiert.

Das ist nicht einfach Geld – diese Beträge lassen sich sogar, jedenfalls grob vereinfacht, in Arbeitsplätze umrechnen. In Deutschland liegt die durchschnittliche Kapitalausstattung eines neuen Arbeitsplatzes bei 200.000 Mark. 1995 schufen die Ausländer also rechnerisch 65.000 neue Stellen. Ein neuer Arbeitsplatz im Ausland kommt für Unternehmen aus Hochlohn-Deutschland hingegen billiger. Im Investitionsmix aus US-, EU- und Mittelosteuropa dürfte die Kapitalausstattung bei 175.000 Mark liegen.

Heißt: Deutsche Unternehmen haben allein 1995 im Ausland 285.000 neue Stellen geschaffen. Defizit für Deutschland in nur einem Jahr: 220.000 Arbeitsplätze. Ganz theoretisch ist diese Zahl nicht: Sie paßt verblüffend gut zu den 200.000 Industriearbeitsplätzen, die nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit im Laufe des Jahres 1995 in Deutschland weggefallen sind.

Aber der Verweis auf diesen Trend in der Investitonsbilanz geht nach hinten los. Denn ein anderer Teil der Zahlungsbilanz, die Handelsbilanz, zeigt den genau entgegengesetzen Trend, spielt aber in der Standortdiskussion kaum eine Rolle. Nach Deutschland wurden im letzten Jahr zwar Waren im Wert von 634 Milliarden Mark importiert, aber für 728 Milliarden exportiert. Das Außenhandelsplus ist nicht nur satt, sondern schon fett: 93 Milliarden Mark. Auch hier ist die Lage im laufenden Jahr stabil: Das Statistische Bundesamt meldete für das erste Quartal 96 einen Überschuß von 23 Milliarden Mark; wenn der Dollar wieder teurer wird, kann sich das Positivsaldo aber schnell weiter verbessern. Ein merkwürdiger schlechter Standort, an dem so begehrte Güter für die ganze Welt produziert werden können.

Die guten Noten, die die internationale Wirtschaft damit der nationalen gibt, haben allerdings auch eine starke negative Komponente. Die deutsche Wirtschaft ist auf dem besten Weg, wieder in die Spitzengruppe der weltwirtschaftlichen Störenfriede zurückzukehren. Wenn ein Franzose einen VW Golf kauft, braucht er für dessen Herstellung keinen inländischen Renault-, sondern eben einen ausländischen VW-Arbeiter. Heißt: Solche Überschüsse schaffen Überbeschäftigung im Exportland und Unterbeschäftigung im Importland. Oder: Handelsbilanzüberschüsse bedeuten den Export von Arbeitslosigkeit.

Dank der deutschen Einheit schienen diese Zeiten eigentlich vorbei zu sein. 1989 hatte der Exportüberschuß die astronomische Höhe von 135 Milliarden Mark erreicht. Er schrumpfte dann schnell, weil die westdeutsche Industrie mit der Sättigung der ostdeutschen Nachfrage nicht nachkam und deswegen viel mehr Güter aus dem Ausland nach Gesamtdeutschland importiert wurden. Eine wirtschaftspolitisch sehr wünschenswerte Entwicklung: 1990 lag der Überschuß noch bei 105 Milliarden, aber 1991 nur noch bei fast ausbalancierten 22 Milliarden – und das alles bei weiter zunehmendem Handelsvolumen. Seitdem steigt aber nicht nur das Volumen weiter, sondern auch wieder der Überschuß. Er könnte wohl in diesem Jahr die Hundert-Milliarden- Mark-Schwelle wieder überschreiten. Auch dieses Ungleichgewicht läßt sich in Arbeitsplätzen ausdrücken. In der deutschen Exportindustrie kommt auf, grob geschätzt, 300.000 Mark Umsatz ein Industriearbeitsplatz. Wenn die Exportwirtschaft nun für 93 Milliarden Mark mehr Waren ins Ausland absetzt, als von dort importiert werden, so entspricht dies in Deutschland rechnerisch 310.000 Arbeitsplätzen. Übrigens sind diese „überzähligen“ Stellen zum allergrößten Teil in Westdeutschland angesiedelt, denn die ostdeutsche Wirtschaft trägt zum gesamtdeutschen Export nur lächerliche zwei Prozent bei.

Der Vergleich der – zugegebenermaßen grob überschlägigen – Arbeitsplatzwirksamkeit von Investitions- und Handelsströmen zeigt: Bei einem Überschuß von rund 100.000 Arbeitsplätzen besteht für Krokodilstränen über die scheinbar größere Attraktivität des Auslands gegenüber Deutschland kein Anlaß. Im Gegenteil, wie schon in den achtziger Jahren wird in enormem Umfang Industriearbeitslosigkeit exportiert. Wer den Standort Deutschland kritisiert, muß sich deswegen bessere Argumente einfallen lassen als den Verweis auf das abfließende Unternehmenskapital.

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