: Unbefleckte Fantasie
■ Heute abend im Schlachthof: Der Osterchorsteinway mit der ersten „Faust“-Vertonung von Anton Heinrich Fürst Radziwill
Anton Heinrich Fürst Radziwill ist in keinem Opernführer zu finden. Der 1775 geborene Ehemann der Schwester des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen war seit 1815 Statthalter in Posen. Der Politiker, Mäzen, Sänger und Cellospieler komponierte die erste von ca. achtzig Vertonungen des Goetheschen Faust, die wir kennen. Goethe hat ihn ein „kräftiges Talent“ und seine Komposition „genial, uns glücklich mit fortreißend“ genannt. Seit der ersten Teilaufführung 1819 gab es bis zum Ende des Jahrhunderts in Berlin über 25 Wiederholungen – zum Vergleich: Bis 1941 wurde Mozarts Requiem von der Singakademie 50 mal aufgeführt. Dieses Kleinod, dem kein Geringerer als Robert Schumann eine „unbefleckte Fantasie, eine sozusagen fürstliche Einfalt, eine Erfindergabe, die die Sache oft an der Wurzel packt“, bescheinigte, hat jetzt Manfred Seidl wiederentdeckt, und der Osterchorsteinway bringt es heute abend im Schlachthof zur Aufführung.
taz: Herr Seidl, von Goethe weiß man ja, daß sein Musikgeschmack sehr einfach war, daß beispielweise Franz Schubert tief enttäuscht war, weil der Dichter ihn nicht verstand. Die Komposition von Radziwill hat er geschätzt. Wie ist die Musik?
Manfred Seidl:
Ja, Goethe fand grundsätzlich Gefallen an einem eher volkstümlichen Stil. Von Radziwill muß er begeistert gewesen sein, denn der berühmte Satz „Blut ist ein ganz besonderer Saft“, der soll von Radziwill sein. Die Musik ist hauptsächlich für Chor, Radziwill war ja ein Sänger und Förderer der Berliner Singakademie. Zum Beispiel ist die Anfangsszene die Ostermesse und der Schluß das Requiem im Dom. Und dann gibt es noch ständig auftauchende Geister, die sind immer da.
Wenn es so viel Chor gibt, wie sind denn die drei Protagonisten Faust, Mephisto und Margarete gestaltet?
Gegenüber dem Chor untergeordnet. Sie treten – Margarete als Sopran, Faust als Tenor und Mephisto als Baß – im gesprochenen Melodram und in wenigen Arien auf, die auch liedhaft und schlicht sind.
1820 hat der Komponist Carl Friedrich Zelter, den Goethe auch sehr mochte, die Musik als die Rettung der Dichtung gelobt. Kann man das heute noch nachvollziehen?
Das hat mich selbst gewundert. Die Musik traf wohl einfach den Zeitgeschmack. Es ist ja auch ganz erstaunlich, daß dieser Faust während des ganzen 19. Jahrhunderts mehr Aufführungen hatte als beispielweise Händels „Messias“. Sicher hat Radziwill Goethe zu mehr Popularität verholfen.
Wie ist denn die Orchesterbesetzung?
Die übliche große romantische Besetzung mit großen Bläsereffekten, vielleicht am ehesten dem Klangbild von Felix Mendelssohn Bartholdy vergleichbar. Übrigens fanden wir das Stück am Anfang zu süßlich, aber mit zunehmender Beschäftigung wurde es immer schöner.
Der Osterchorsteinway ist ja ein Laienchor. Wo lagen die Schwierigkeiten der Einstudierung?
Es ist schwer, aber zu schaffen. Man muß ja bedenken, daß Radziwill exakt für diese Kategorie von Sängern geschrieben hat.
usl
Anton Heinrich Fürst Radziwill: Faust. Heute abend um 20 Uhr und am 1.12. um 20 Uhr im Schlachthof. Es singt der Osterchorsteinway und – Orchester
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