Ein rauschender Nachmittag

■ Kritiker finden sie anspruchslos, das Publikum liebt sie: die Hamburger Erfolgs-Musicals „Cats“ und „Phantom der Oper“ Von Per Hinrichs

„Kommerz-Theater“ meckern die einen, für die anderen bleibt eine Aufführung schlicht ein unvergeßliches Erlebnis. Beim „Phantom der Oper“ scheiden sich die Geister. Niemanden schert diese Diskussion so wenig wie das Publikum: Tausendfach strömt es in die Neue Flora in Altona. Am Wochenende sogar am Nachmittag. In Anzug und Chanel-Kostüm.

Leo Heinrich sieht sich an diesem Wochenende bereits zum zweiten Mal ein Musical an. Er streicht prüfend seinen dunkelblauen Anzug glatt, zweireihig, 70er-Jahre-Schnitt. Seinen massigen Oberkörper drückt er aufrecht in den Sitz, die langen Beine stehen hochangewinkelt, die Hände liegen parallel auf den Oberschenkeln. Fast wie ein Patient im Wartezimmer. „Jestern ham wir ,Cats' gesehen, da war auch viel Technik dabei, aber dat hier, dat soll ja enorm sein“, erzählt der 56jährige rotwangig und läßt den Blick durch den mehrere Stockwerke hohen Saal an der Stresemannstraße schweifen. Volles Haus, wie immer. 1800 Besucher. „Karten ham wir über den Veranstalter bekommen, war 'ne Pauschalreise“, erzählt Heinrich. Einmal das „Phantom der Oper“ sehen, das war sein Traum. Dafür ist er von Überach-Parlenberg bei Aachen „mit'm IC hierhergefahren, erste Klasse.“ Er beugt sich etwas vor und flüstert mit vorgehaltener Hand: „Das war das erste Mal seit 30 Jahren, daß ich mit dem Zug gefahren bin.“ Es klingt entschuldigend, als ahnte er sein Unweltbewußtsein.

Karten für die Abendvorstellungen sind über Monate hinaus ausverkauft. Deshalb setzen sich viele auswärtige Besucher in die Nachmittagsvorstellung. Für die bekommen sie meist auch kurzfristig noch Tickets, wenn sie eine Pauschalreise buchen. Hamburg mit „Cats“ und „Phantom“ und zurück. Aus aller Herren Bundesländer strömen die Fans herbei.

Zum Segen für die Stella Musical GmbH, die beide Kassenschlager auf die Bühne gebracht hat. Seit Dezember hat die Gesellschaft eine weitere Produktion in Stuttgart laufen: „Miss Saigon“. Fahren als technische Höhepunkte beim „Phantom“ immerhin Kerzenständer aus dem Boden oder senken sich Hängebrücken von der Decke, schwebt in Stuttgart mit viel Lärm ein kompletter Hubschrauber herab. Die aufwendige Produktion bekam prompt den Stempel „Anti-Kultur“ aufgedrückt. Dürftige Story, schlichte Musik, Ausstattung verdrängt Anspruch. Und schließlich: Wo soviel Geld verdient wird, kommt die Kunst zu kurz, monierten die Kritiker.

Wahrscheinlich ist Rolf Deyhle diese Diskussion so schnuppe wie seinem Publikum. Der schwäbische Unternehmer leitet die Geschicke der Stella. Er hört weniger auf Kritiker denn auf Kassen. Und die klingeln: Hunderttausende sahen das „Phantom der Oper“ seit der Premiere im Juni 1990 in Hamburg, seit neun Jahren läuft „Cats“ auf der Reeperbahn mit einer ähnlich hohen Auslastungsquote. Andrew Lloyd Webbers Seifen-Operetten liegen im Trend.

Auch bei Christian Kroack aus Bamberg. „I hab' ihr dös zu Weihnachten geschenkt“, sagt der 24jährige Franke und lächelt seine Freundin Daniela im weißen Raffkleid an. Seinen Stolz über das ungewöhnliche Geschenk versteckt er nicht. Viel davon gehört hätten sie. Das müsse man ja mal gesehen haben. Und eingestiegen in den ICE, hergefahren, Hamburg besichtigt.

Oder Sylvia Bergefeld aus Sonderhausen in Thüringen. „Wir wollten das uff jeden Fall mal sehen. Und dann ham wir nur für die Nachmittagsvorstellung Karten bekommen.“ Ihr Begleiter, ein untersetzter Mittdreißiger, schaut nervös auf die Uhr. „Dauern Pausen immer so lange?“ fragt er sie. „Das is normal“, beruhigt sie ihn. Sylvia Bergefeld genießt die Pause sichtlich: Sie sieht sich aufmerksam um, späht hinter dem Pfosten, an dem sie lehnt, über die Kaffee-Theke auf die gegenüberliegende Seite der Galerie, auf der eine Gruppe Chanel-verhüllter Frauen ihrerseits nach den Kleidern der anderen schielen. Sie selbst wartet heute nachmittag mit einem geschlitzten weißen Rock und einer dunkelblauen Samtbluse mit Puffärmeln auf.

Jetzt hat es schon zweimal geklingelt, alle sitzen wieder. Das Phantom, heute gespielt von Jeoffrey Reynolds, spricht Deutsch mit Südstaaten-Akzent. Da wird aus einem hingehauchten „sehnsuchtsvoll“ schnell „säinsyktsfull“; und das hat man erst drei Verse später herausgefunden, weil der tenorsingende Reynolds sich in Tonlagen aufhält, in denen Männer eigentlich nichts zu suchen haben. Musical für Fortgeschrittene.

Aber die Technik, die Technik: Die ist nun wirklich faszinierend. Wenn sich die Bühne in Sekundenschnelle unter dröhnender Orgelmusik von einer prachtvollen Opernkulisse in eine dunkle, nebelumwaberte Seelandschaft verwandelt, preßt das selbst Leo Heinrich noch ehrfürchtiger in den Sitz. Das will bei 100 Kilo schon was heißen. Bayreuth fürs Volk.

Am Ende, wenn der Vorhang sich schließt und keine Fragen offen blieben, hat sich die Zugfahrt in den hohen Norden gelohnt: „Beeindruckend war dat“, sagt der Mann aus dem Rheinland, und: „Könnt' ich mir glatt nochmal ansehen.“ Am liebsten wieder die Nachmittagsvorstellung – denn „danach kann man so schön essen gehen.“