: Freischuß ins Schwarze
■ „Karol“ im Theater Satyricon entpuppte sich als absurder Thriller / In der Hauptrolle: ein polnischer Groucho Marx
„Total Glasnost!“ hätte man in der Ära Gorbatschow gerufen. Die Deutschen haben „Glasnost“ immer mit „Durchblick“ übersetzt, und der Einakter „Karol“ des polnischen Autors Mrozek spielt immerhin in der Praxis eines Augenarztes. Thema sind Revolution und Diktatur, Feigheit und Verrat.
Doch wer aufklärendes Theater nach Brecht befürchtet hat, womöglich überlagert von einer depressiven Grundstimmung hinter dem eiserenen Vorhang, wird angenehm überrascht. Im Theater Satyricon, das von heute an mit „Karol“ in die zweite Aufführungsstaffel geht, erlebt man 75 Minuten Hochspannung nebst Marxscher Hochkomik (Groucho statt Karl).
„Karol“ ist eine absurde Parabel ohne Zeit und Ort. Von der ersten Minute an, wenn die revolutionäre Enkelin mit dem alten, sehbehinderten Großvater in die Augenarztpraxis tritt, hält man den Atem an. Der nahezu blinde Patient ist ein nervöser Fanatiker, der sich an seine Flinte klammert, daran herumfummelt und gerne auch mal ins Publikum zielt. Er hat offenbar nichts anderes im Sinn, als einen gewissen Karol abzuknallen, den er seit Jahren verfolgt. Ist es unter diesen Umständen eigentlich sinnvoll, dem Alten zu einer Brille zu verhelfen? Was wird er erst anrichten, wenn er sehen kann? Doch bevor der Augenarzt sich seiner Verantwortung so recht bewußt wird, ist er seine eigene Brille los. Und wird zum Opfer. Der Großvater kann nun sehen und hat plötzlich den Arzt im Verdacht, jener Karol zu sein.
Die beiden Exekutoren, Großvater und Enkelin, sind gnadelos. Karol – das kann jedermann sein. Und Karol, daran besteht keinerlei Zweifel, gehört abgeknallt.
Hervorragend, wie Benedikt Vermeer (mit seinem Schnurbart und der kalten Zigarre tatsächlich an Groucho Marx erinnernd) und Galina Zaborskaja in der Rolle der fanatischen Enkelin zwei Besessene geben, die dem Arzt (Hermann Book) die Verhörlampe ins Gesicht halten. Die erstaunlich dichte Atmosphäre des Stücks ist in erster Linie Ergebnis einer sehr sorgfältigen Regiearbeit. Ungewöhnlich, wie „Karol“ überhaupt zustande kam: Wo sonst im Theater viele Köche den Brei verderben, haben hier zwei mit Erfolg zusammen gearbeitet.
Und dabei sprechen sie nicht einmal die gleiche Sprache: Der 83-jährige Stanislawski-Schüler Semen A. Barkan (83) ist Jude und kommt aus Rußland, wo er zu den wichtigen Theaterleuten zählt. Seit drei Jahren ist er in Bremen. Mit den Satyricons hat er Theaterleute gefunden, die seine Erfahrung zu schätzen wissen. C. Henrik Schröder, der 28jährige Regisseur aus Berlin, schwärmte im Nachhinein von der fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem alten Theaterhasen.
Die Zuschauer, der Beifall zeigt es, wissen den absurden Abend voller Hochspannung zu würdigen. Man sollte sich das Stück nicht entgehen lassen.
Susanne Raubold
Aufführungen: 14.,-15., und 18.-22.12. in der Hankenstr 24. um 20.30 Uhr.
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