: Noch hält das Zirkusvolk zusammen
■ Mit der UdSSR zerfiel auch der Unions-Staatszirkus. Dem russischen Erben droht der Exodus der Artisten gen Westen
Auf den Treppen des düsteren Hauses in der Moskauer Altstadt drängelt sich, wie eh und je, ein unkonventionelles Publikum: Mädchen in Leoparden-Leggings, tätowierte Herren, und dazwischen droht mancher wohlgenährte Bürokrat aus seinem Ledermantel zu platzen. Vor sechs Jahren stand am Hauseingang geschrieben „Unions-Staatszirkus“, heute „Rosgoszirk“ – Russische Staatliche Zirkusgesellschaft.
Zwischen der alten und der neuen Zeit gibt es wichtigere Unterschiede als den Namen. Einer davon heißt Ljudmila Jairowa und residiert in einer Art Rittersaal im Bauche des Gehäuses. Heute herrscht diese elegante Dame über ein Imperium von 42 festen Zirkustheatern, siebzig Zirkusbetrieben und zehntausend menschlichen Angestellten – davon ein reichliches Drittel Artisten. Dazu kommen etwa sechseinhalbtausend Tiere, von denen die vierbeinigen PensionärInnen und Mütter mit Kleinkindern in insgesamt neun Menagerien herumtigern. Schon 1990, als die UdSSR ins Wanken geraten war, rebellierte das Zirkusvolk gegen seine alte Führung und wählte sich die gewandte Ljudmila zur Präsidentin – ausgerechnet eine Verwaltungsfachfrau aus dem Kultusministerium.
„Wir brauchten eine Managerin“, kommentiert der Reitvirtuose Tamerlan Nuksarow heute an Ljudmilas Konferenztisch: „Wir Zirkusleute sind wie Kinder, wir verstehen es nicht, unsere Interessen wahrzunehmen.“ Tamerlan hat für seine halsbrecherische Nummer „Berglegende“ in diesem Jahr als erster Zirkusartist seit 18 Jahren den russischen „Staatspreis“ erhalten. Mit Schaudern erinnert er sich an seinen ersten Antrag auf eine Auslandstournee: „Ich sollte mich dafür vor der Zirkus-Komsomolorganisation rechtfertigen.“ Vetternwirtschaft bestimmte damals, wer durch den Eisernen Vorhang durfte. „Und doch verdanken wir es der sowjetischen Kulturpolitik“, erinnert sich Tamerlans Ehefrau und Mitakteurin, Swetlana Awdejewa, „daß der Zirkus hier hoch geachtet wird, so wie die Philharmonie. Der Clown Popow galt bei uns nicht weniger als die Ballerina Ulanowa.“
Der sowjetische Staatszirkus vereinte immer Akteure aus allen Völkern der Union. Für die Welt aber war seine besonders herzliche Art, die Kunststücke zu präsentieren, stets „russisch“. Der neue russische Staat zahlt 40 Prozent der jährlich anfallenden Ausgaben seines Zirkus. Der Rest muß erwirtschaftet werden. Ihr historisches Erbe verschafft dieser Organisation im internationalen Wettbewerb einen großen Vorsprung, macht sie aber auch verwundbar.
Spitzenartisten aus der Russischen Föderation blicken auf eine jahrelange Ausbildung an ihrer Zirkusschule zurück. In ihrem Leben gab es stets einen zuverlässigen Wechsel zwischen langen Wandermonaten, Urlaub und der von keinerlei Existenzsorgen getrübten Entwicklungsarbeit an neuen Nummern. Tamerlan und seine Dschigiten – kaukasische Reiter – konnten sich für ihre „Berglegende“ unentgeltlich einen einzigartigen Mechanismus bestellen: eine riesige schiefe Ebene, die sich während der Vorstellung langsam zu einem Winkel von 45 Grad aufrichtet.
Wenn Tamerlan – selbst halb Ossete und halb Tschetschene – über seine Truppe von Armeniern, Aserbaidschanern und Georgiern spricht, sagt er: „Die Sowjetunion ist zerfallen, aber ihr Zirkusvolk hält immer noch zusammen.“ Große Worte! Heute, da kein Beamter die Artisten auf Dauer zurückhalten kann, droht ihr Exodus in Länder mit harter Währung. Auch Tamerlan und Swetlana haben ihre Interessen wahrgenommen und verabschieden sich für eine USA-Tournee. „Wir werden nie länger als ein halbes Jahr wegbleiben“, ruft der Staatspreisträger im Gehen. Im Foyer trifft er auf zweifelnde Mienen.
Mit der Zeit haben sich fast alle Artisten der Russischen Staatlichen Zirkusgesellschaft nach Moskau umgemeldet. Von allen ehemaligen Republiken unterhalten nur noch die Ukraine und Belorußland Staatszirkusse. Grenzüberschreitungen innerhalb der ehemaligen Union bringen Zollschikanen und Visaformalitäten mit sich. Neulich behielt ein mittelasiatischer Staat die Pferde einer Dschigiten-Truppe des Rosgoszirk einfach ein. Begründung: „Die gehören zu unserer Nation.“
Ljudmila Jairowa bleibt nur die Flucht nach vorn: „Mir schwebt eine Art Diplomatenstatus für Zirkusleute vor.“ Als die Zirkuspräsidentin im Januar 1996 in Paris war, beschloß sie, bei der Unesco vorbeizuschauen, um deren Schirmherrschaft über ein „Internationales Institut für Zirkus“ zu erbitten: Wie sich herausstellte, hatte niemand etwas dagegen. Das Institut soll Forschung betreiben und die Interessen der Zirkusschaffenden vertreten. Gegründet wurde es im Oktober. Da fand gerade, erstmals in Moskau, ein internationaler Zirkuswettbewerb statt – direkt auf dem Roten Platz. „Zirkus auf dem Roten Platz!“ sagt die Präsidentin verträumt. „Das wäre in der Sowjetunion undenkbar gewesen!“ Barbara Kerneck, Moskau
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