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Handball bezaubert die Hexenstadt

Der TBV Lemgo, derzeit die unangefochtene Spitzenmannschaft im deutschen Handball, prägt die moderne Stadtwerbung des ostwestfälischen Provinznestes mit zwielichtiger Tradition  ■ Aus Lemgo Jörg Winterfeldt

Tag für Tag traben Touristentruppen durch das ostwestfälische Provinznest Lemgo. Vor 700 Jahren, als der Tuch-, Leinen- und Garnhandel florierte, waren die Beziehungen der Stadt zur Hanse besonders gut. Später dann, als die europäische Hexenverfolgung ihren Höhepunkt erlebte, traf die Manie Lemgos Frauen besonders übel. Böse Nachbarszungen und der als Hexenjäger berüchtigte Bürgermeister Hermann Cothmann forderten über 200 Opfer in fünf Prozeßwellen. Weil aus alten Zeiten noch allerhand historische Architektur das Stadtbild schmückt, werden allmorgendlich Busladungen über Busladungen in Lemgo ausgeladen, um Orpingstraße und Lindenwall zu bewandern bis hinaus zum Hexenbürgermeisterhaus, wo Cothmann einst residierte.

Das ist längst zum städtischen Museum gewandelt worden, so daß der heutige Bürgermeister Reinhard Wilmbusse im Rathaus am Marktplatz residiert. Dort beklagt er trotz des Touristentreibens, „daß das wirtschaftliche Geschehen Lemgos nicht vom Fremdenverkehr bestimmt ist“. Die Tagesmeute nämlich lasse sich abends von den Busfahrern brav wieder einsammeln und nach Hause oder in eines der zahlreichen Bäder in der Nachbarschaft kutschieren. Wilmbusses bester Werbeträger bringt heute den Stadtnamen eher mit Fortschrittlichkeit denn mit Historie in Verbindung: Der TBV Lemgo ist mit seinem modernen Handball im letzten halben Jahr zur erfolgreichsten Werfertruppe Deutschlands aufgestiegen.

In der Meisterschaft hat die Kleinstadttruppe bislang lediglich einmal in 14 Spielen verloren, im DHB-Pokal am Mittwoch den amtierenden Meister THW Kiel mit 23:20 aus dem Wettbewerb gefeuert und auch im internationalen Pokalsieger-Cup noch keine bessere Mannschaft ausfindig machen können. Wenn das Team in die Halle Lüttfeld einzieht, sitzt auch der Bürgermeister Wilmbusse auf der Tribüne. Seit 15 Jahren. Wie die meisten seiner Nachbarn. „Immer denselben Platz“, sagt er, nicht ohne Stolz über so viel Patriotismus. „Wenn da einer schreit“, weiß der Stadtoberste „sofort, wer's war“.

In Lemgo, wo der Sport sonst nur Welt- oder Europameister im Radball oder Kunstradfahren hervorbringt, ist der Handball zur gemeinsamen Sache von vielen der 40.000 Einwohner geworden. Wenn der letzte gebürtige Lemgoer Volker Zerbe sich auf der Straße sehen läßt, „gibt es keinen Ort“, gesteht der 2,11-Meter-Riese, „wo nicht ein kurzes Wort über Handball gewechselt wird“. 2.400 Leute faßt die Halle, 40 Firmen – die je 7.500 Mark zahlen – der Partnerkreis des Klubs. Insgesamt kommt ein Etat von drei Millionen Mark zusammen. „Dabei profitiert der TBV davon“, vermutet Bürgermeister Wilmbusse, „daß die Sponsoren hier nicht so umworben sind.“ Für die Kommune hingegen sei es ein wichtiger Standortfaktor, findet Wilmbusse, wenn man den Neuankömmlingen sagen könne, „hier ist was los in Lemgo – alle 14 Tage kannste Handball gucken“.

Dann schlendern Massen von Menschen mit leeren Wasserkisten aus Plastik unter dem Arm ins Lüttfeld. Wenn die TBV-Heimstatt voll ist, müssen die Zuschauer vorne ihre Füße einziehen, sollen die Spieler nicht darüber stolpern, die hinten müssen sich auf die mitgebrachten Kisten stellen, und die Journalisten müssen das Geschehen aus den Geräteräumen verfolgen.

Unten überrollt die Mannschaft einen Gegner nach dem anderen mit einer Mischung aus Kraft, Tempo und Spielwitz. Die meisten Akteure spielen seit drei Jahren zusammen. Lemgo hat die panische Post-Bosman-Kauferei nicht mitgemacht. In der Anfangsformation findet sich mit dem Franzosen Julia auf Rechtsaußen gerade eine Veränderung zu der Mannschaft, die in der letzten Saison Dritter in der Meisterschaft und Europacupgewinner der Pokalsieger wurde. Auf dem Fundament des ungarischen Trainers Lajos Mocsai feilt seit dem Sommer der Weißrusse Juri Schewtsow an seiner Meistermannschaft. Der 36jährige Ex-Weltmeister hat das Team von einigen taktischen Zwängen des Vorgängers entlastet und ihm vor allem rasante Spielgeschwindigkeit eingetrichtert. Mit den neuen Freiheiten ist der Lemgoer Teenie-Liebling Daniel Stephan zum kreativen Kopf der Mannschaft aufgestiegen. „Man geht bewußt mehr Risiko ein“, sagt Kapitän Zerbe, „um durch leichte, schnelle Tore den Gegner aus der Fassung zu bringen.“ Fast in jeder Partie übertreffen die Hexenstädter die 30-Treffer-Marke.

Außerdem, hat nicht nur Bundestrainer Heiner Brand voller Hochachtung beobachtet, „steht die Abwehr sehr gut“. Wenn Zerbe und Bezdicek, 2,06 Meter im Zentrum die Krakenarme heben und der Rest homogen in der Deckung verschiebt, hat der gegnerische Rückraum Mühe, überhaupt den Standort des Tores zu eruieren. „Wir sind nicht handballerisch viel besser geworden“, schwant es dem Schweizer Rückraumstrategen Marc Baumgartner zudem, „sondern mannschaftlich stabiler.“ Baumgartner, der behäbig wirkende Mann mit dem auffälligen Mundschutz, ist der Shooter der Truppe. Die Gründe für die Souveränität macht der Brachialgewaltige darin aus, „daß wir in dieser Saison auch die engen Spiele gewinnen, die wir im letzten Jahr alle verloren haben“.

Doch selbst im Stadium der örtlichen Euphorie und der unangefochtenen Vorherrschaft des Handballs ist der TBV in Lemgo kein Selbstgänger wie etwa der THW in Kiel. Während dort die Halle mit 7.000 Zuschauern dauerausverkauft ist, bleiben im Lüttfeld auch in diesen Tagen der Jubelgarantie noch Plätze frei, und eine Schlagerpartie wie die vorgestern wird erst an der Tageskasse ausverkauft. Ungeachtet dessen hat der Klub in der Hallenkapazität sein größtes Strukturdefizit ausgemacht. „Dieser finanzielle Nachteil aus den Zuschauereinnahmen gegenüber der Konkurrenz hat zur Folge, daß wir ein rigoroses Kostenmanagement betreiben müssen“, gesteht der zweite Klubvorsitzende Paul-Gerhard Reimann.

Im Sommer gab es Unruhe, als der Verein den Stars die Extraprämie für den Europapokalsieg verweigerte. Auf kommunaler Ebene sieht der Bürgermeister keine Möglichkeit zur Hilfe: „Im Augenblick“, läßt er wissen, „ist da nix drin: Für 15 Heimspiele des TBV im Jahr kann man keine Halle bauen.“

Wilmbusse selbst hilft nach Kräften. Seit 15 Jahren bezahlt er auch als Amtsträger seine Dauerkarte aus der eigenen Tasche: „Die brauchen doch das Geld, die Jungs.“

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