■ Nachschlag: Musils „Fliegenpapier“ als Theater mit vermutlich 999 Luftballons
Hinter der Türschwelle liegt eine weiße, weiche Theaterwelt. Glänzende Kugeln bedecken den Boden wie ein Teppich, wachsen in prallen Trauben die Wände hinauf, drängen bis an die Füße der Zuschauer. Man möchte federnd auf ihnen ausschreiten. Aber dann würde der schöne Traum aus vermutlich 999 Luftballons leider zerplatzen (Bühne: Stefan A. Schulz). Nur ein Mann darf, in Filzpantoffeln, durch die Ballons schlurfen. Ab und zu hebt er eine schlaffe Gummihülle auf und pustet sie prall.
Was spürt die Fliege, die auf einem geleimten Stück Papier landet? „Eine ganz leise, befremdliche Empfindung, wie wenn wir im Dunkel gingen und mit nackten Sohlen auf etwas träten, das noch nichts ist als ein weicher, warmer, unübersichtlicher Widerstand...“. In „Fliegenpapier“ beschreibt Robert Musil grausam präzise das langsame Sterben einer Stubenfliege. Die Regisseurin Nina Tanneberger, Spezialistin für Langsamkeit, Hinsehen und –hören, hat das knapp zwei Seiten kurze Prosastück als Theatermaterial entdeckt.
Ganz sacht schlägt eine blinde Frau einzelne Töne am Flügel an und flüstert kaum hörbar Musils Text. Auf einem Sofa sitzt ein junges Mädchen mit dem Rücken zum Publikum. Als sei sie seziert worden, sieht man von ihr nur einzelne Körperteile: den Kopf, den hochgestreckten Hintern, die Füße. Ab und zu summt sie einzelne Töne, die sich später zu einem alten Schlager fügen: „Du, du liegst mir am Herzen...“ Der Pantoffelmann huscht derweil durch perlende Ballonvorhänge. Dann steht er still, nur ein Finger zuckt wie ein Insektenbein. Irgendwann steht das Mädchen auf. Er brummt, sie surrt, ihre Finger treffen sich: „Bsst!“ Ein kurzer, mißglückter Insektenflirt beginnt und ist auch schon wieder vorbei. Mit dem einsamen Todeskampf von Musils Fliege hat das nicht viel zu tun, das Paar wirkt trotz stierer Blicke vital, ja selbst die Luftballons bleiben heil. Die minimalistische Theaterstunde der Stille schärft zwar die Sinne – aber es gibt nichts wahrzunehmen, was soviel Aufmerksamkeit verdient hätte. Mehr wäre hier wohl mehr gewesen. Miriam Hoffmeyer
Bis 1.2., 20.30 Uhr, Parkhaus, Puschkinallee 2, Treptow
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen