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Ganz nah dran am Melodienvulkan

■ Kammerphilharmonie servierte einen farbenreichen und quicklebendigen Schubert

Franz Schubert, „der flinke Zauberer, heute eine Messe, morgen ein Ländler, übermorgen ein Frauenchor-Werk; nur rasch, nur rasch“ die Klischees über den „nachrangigen Meister der kleinen Form“, halten sich hartnäckig. Genug zu tun also im Jubeljahr zum 200. Geburtstag des Vielschreibers, Syphilitikers und Vateropfers. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen war beim Zweiten Eröff-nungskonzert im Glockensaal ganz nahe dran. Nicht nur zeitlich am Geburtstag (31.1.) des Melodienvulkans, sondern auch nahe am Profil dieses Wiener Kompositi-onskosmos mit ebenso genußreichem wie didaktischem Programm und brillanter Interpretation.

Kleinteiligkeit und Weiträumigkeit, Frühwerk und Spätwerk, empfindsamer Motivquell und formale Beherrschung – daß dies gerade bei Schubert keine Gegensätze sind, demonstrierten die Bremer Kollektivvirtuosen mit ihrem farbenreichen, dichten und dynamisch differenzierten Spiel. Und sie bedienten sich dabei eines der Heroen ihres Hauptarbeitsgebietes: Anton Weberns. Sind auch bei der 2. Wiener Schule nicht die jüngsten der zahllosen Komponistenhommagen an Schubert zu finden, die Gegenüberstellung von Weberns Bearbeitung der Schubertschen Deutschen Tänze D 820 und seiner Bearbeitung von Bachs Fuga (Ricercata) a 6 voci aus dem „Musikalischen Opfer“ ebnet auch Wege zu den Schubertschen Kompositionspolen.

Die organische Eigendynamik der tänzerischen Motive bindet Weberns Orchestrierung in formale Strenge, vitaler Puls und analytische Klarheit hielten sich im Spiel der Bremer Kammermusikanten wunderbar die Waage. Umgekehrt scheint Webern aus der Tektonik Bachs die vegetativ-geistige Entwicklungsenergie jenseits des Regelapparats schälen zu wollen. „Einfälle“ und „Arbeit“ markieren allenfalls unterschiedliche Startpositionen und verzahnten sich in der plastischen Klangsprache des Orchesters zur logischen und immer wieder spontan, neu, frisch wirkenden Fortschreitung.

Höhepunkt des Konzerts und „Beweisführung“ dieses „pädagogischen“ Intros war schließlich Schuberts Messe Nr. 6 in Es-Dur, entstanden im Sommer 1828, im Todesjahr des Komponisten. Frieder Bernius führte den Kammerchor Stuttgart und die Kammerphilharmonie durch ein sanft explosives Spannungsfeld von subjektiver Bekenntnisreligiösität und Auseinandersetzung mit der kirchenmusikalischen Tradition.

Individuelles Drängen und ein gemessenes Schreiten durch die Großform fanden im korrespondenzreichen, verhalten expressiven Spiel der Kammerphilharmoniker und in einer differenzierten Rhetorik abseits monumentalen Glanzes und gefühliger Größe ihre Entsprechung. Dazu fügten sich die lyrisch timbrierten Oratorienstimmen der Solisten Marie-Noelle de Challatay, Martina Borst, Robert Chafin, Jan Kobow und Cornelius Hauptmann. Virtuos gestaltete Chafin die große Tenorarie. Der lange Atem aller Interpreten in der warmtönenden Glocke ließ Schuberts ausladendes „Spätwerk“ zur Kurzweil werden. Rainer Beßling

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