Ohne Gefühl - betr.: "Süßer Singsang zum Schafott", taz vom 8./9.2.1997

Diese harte Kritik verdient harten Widerspruch, denn sie ist dumm und ohne Gefühl! (...) Dumm, weil sie die Intensität des Spiels nur als Kitsch wahrnimmt (...), weil sie die betroffenen und begeisterten Reaktionen des Publikums gar nicht erwähnt (...) und weil die Autorin über ihre eigenen Gefühle keine Auskunft gibt (...). Glücklicherweise sagt Frau Kühl, was sie in dieser Inszenierung vermißt: Mut zur Provokation, Mut zum Bösen, positive Irritation durch schrille Travestie des Tabus, Thematisierung der Ambivalenz von Täter-Opfer-Beziehungen. Aber bitte auf keinen Fall Mitleid; das „ist das Letzte, worum es in Ghetto geht“.

Wie wäre es z.B. mit der These, daß hier eine Erinnerung versucht wurde an die Taten unserer deutschen Väter und Großväter an ihren Nachbarn, deren Kinder und Enkel deswegen unsere Nachbarn nicht werden konnten, weil ihnen die Geburt verwehrt wurde. Wie wäre es mit der These, daß hier heutige junge deutsche SchauspielerInnen versucht haben, sich mit den damaligen jüdischen SchauspielerInnen im Wilnaer Ghetto zu identifizieren, mit ihrer Lust auf Leben und mit ihrer Lust auf Kunst angesichts des bevorstehenden kollektiven Todes im Gas (und nicht auf dem Schafott, das ist die absolut falsche Assoziation!), mit ihrem Versuch, Person zu bleiben und mit ihren lust-igen Versuchen, dem Teufel einige Schnippchen zu schlagen.

Und dieser Teufel-SS-Mann ist in dieser Inszenierung gerade nicht böse, eher weich und feminin und verliebt in Jazz und jiddische Musik, aber eben auch verliebt in die Macht der arischen Katze über die jüdischen Mäuse. Ist das denn so schlimm? (...) Thomas Schöpel