: St. Pauli im Web: Ein Stadtteil protestiert
■ Christoph Berndt studiert Medizin. Er wehrt sich dagegen, daß der Hamburger Senat das Hafenkrankenhaus schließen will. Aber er demonstriert nicht nur auf der Straße: Er will mit seiner Website d
taz: Das Hafenkrankenhaus in St. Pauli ist besetzt. Das klingt nach Hafenstraße. Gibt es Parallelen?
Christoph Berndt: Die bekannten Häuser an der Hafenstraße prägen ebenso wie das Hafenkrankenhaus das Bild St. Paulis. Die Bewohner der Hafenstraße profitieren von dem nahe gelegenen Krankenhaus, und sie stellen ihre große Erfahrung mit Bauspekulanten zur Verfügung.
Die Traditionsklinik soll noch in diesem Monat geschlossen werden. Was kann eine Website dagegen ausrichten?
Sie kann Personen sensibilisieren, die auf konventionellem Weg schwer erreichbar sind. Es geht mir vor allen Dingen um die Nutzung eines recht modernen Mediums. Die Resonanz ist vorwiegend positiv, vielleicht etwas zu positiv. Die Beantwortung der zahlreichen elektronischer Briefe geht manchmal etwas auf Kosten der Qualität. Positive Signale kamen auch aus den USA, wo sich ein Freund des Hafenkrankenhauses bereit erklärt hat, die Texte ins Englische zu übersetzen. Allerdings wurde von den Unterschriftenlisten im WWW bis jetzt recht wenig Gebrauch gemacht. Sie stellen einen verschwindend geringen Anteil an den bereits gesammelten 300.000 Unterschriften zum Erhalt des Hafenkrankenhauses.
Der Aufwand, ein solches kollektives Projekt im WWW zu realisieren, ist groß. Was kann ein Homepage-Betreiber tun, um Surfer für ein solches politisches Engagement zu gewinnen?
Das ist schwierig, weil das Angebot so enorm groß ist. Darin kann man mit seiner Site leicht untergehen. Hemmend ist sicher auch die Langsamkeit des Netzes, die zu Ungeduld verführt. Zudem ist die Kommerzialisierung des WWW für Bürgerinitiativen und politische Gruppen auch nicht gerade förderlich. Aber ich habe mich selbst einiger kommerzieller Elemente bedient. Dazu gehören eine relativ aggressive Werbung in diversen Newsgroups, die Nutzung der verfügbaren Suchmaschinen, die Werbemöglichkeit für höchst unterschiedliche Web-Unternehmungen. Und ich vergebe auch einen Hafenkrankenhaus Award. Wichtig waren mir kurze Ladezeiten und eine beständige Aktualität dieses virtuellen Protests.
Wäre es nicht besser, in der realen Welt zu handeln? Wo liegt der Vorteil des virtuellen Protests?
In der Struktur des Internet. Jeder hat die Möglichkeit, seine politische Meinung frei zu äußern und für bestimmte Strukturen zu werben. Leider mißbrauchen bestimmte Gruppierungen die gigantischen Möglichkeiten dieses Mediums. Webseiten, die zum Beispiel zum Rassenhaß aufstacheln, gewinnen an Boden. Ich beklage das nicht im Sinne einer gewissen political correctness, die sich lähmend auf unsere politische Kultur auswirkt. Trotzdemn sehe ich in dieser absoluten Meinungsfreiheit auch eine Gefahr.
Die Website des Hafenkrankenhauses ist in den Top ten der Webhits gelandet. Sie wird von Wissenschaftlern, privaten Homepagemachern, Dienstleistern jeglicher Coleur, aber auch von einer sexuell orientierten Kontaktbörse unterstützt. Ist das Ausdruck eines gemeinsamen Protests quer durch alle Interessengruppen, oder sah man hier eher ein gute Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen?
Natürlich versuchen einige unserer Unterstützer ihre eigenen Zugriffszahlen zu erhöhen. Das läßt sich nicht so genau von den anderen Unterstützern trennen, die vor allem ihre politische Solidarität erklären wollen. In Hamburg unterstützen die vielfältigsten Interessengruppen den Protest gegen die Schließung des Hafenkrankenhauses. Dazu gehören der FC St. Pauli, zahlreiche Kneipen, die Huren der Davidstraße, Schauspieler, Obdachlose, Politiker jeglicher Coleur, die Hafenstraße.
Was halten die denn davon, daß sie nun alle zusammen auf einer Website versammelt sind?
Die Resonanz der St. Paulianer ist im Web selbst sehr positiv gewesen. Es gab aber auch Kritik am Sinn einer Darstellung der aktuellen Stadtteilsituation in diesem modernen Medium. Viele können den Begriff „Internet“ nicht einordnen, da nur wenige Personen einen Internetzugang haben und sich mit dieser enormen Kommunikationsmöglichkeit kaum auseinandersetzen können. Die eigentlich Betroffenen des radikalen Abbaus sozialer Institutionen in diesem Stadtteil lassen sich über das WWW nicht erreichen.
Trotzdem scheint die Arbeit ja nicht umsonst gewesen zu sein. Wie lautet denn Ihre persönliche Bilanz?
Zeitweise waren über 300 Besucher täglich Gast auf der virtuellen Initiative zur Rettung des Hafenkrankenhauses. Persönlich hat mich sehr erstaunt, das dieser zunächst nur symbolisch gemeinte Protest anscheinend wirklich einige Menschen motiviert hat, sich für den Erhalt der Institution Hafenkrankenhaus einzusetzen. Andere Homepage-Betreiber gaben konkrete Hilfestellung im Bereich Werbung und Darstellung, viele teilten mir nur mit, daß ich einmal ihre eigene Homepage besuchen sollte. Eine Vielzahl persönlicher Kontakte kam zustande und ließ die Idee aufkommen, dieses Internetprojekt in eine virtuelle Bürgerinitiative umzuwandeln und einen Verbund mit anderen Webseiten zu organisieren. Eine vor kurzem eingeführte Mailing-Liste erfreut sich wachsenden Zuspruchs. Unterschriftenlisten und Besetzungscoupons wurden ausgedruckt und an das Hafenkrankenhaus geschickt. Aber auch Neid und Mißgunst waren ständige Begleiter dieser Initiative. Einige sogenannte E-Mail-Bomben haben mich erreicht, zahlreiche Telefongespräche mit Parteifunktionären ergaben sich, und sogar eine virtuelle Parteiausschlußkampagne wurde inszeniert. Der virtuelle Protest wurde ernster genommen, als vorauszusehen war. Interview: Ralph Segert
ralph.segert@bochum.netsurf.de
Das Hafenkrankenhaus im Web: http://www.geocities.com/Capitol Hill/2558
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