: Amokläufer, in Watte gepackt
Jenseits des Tellerrands der Tastatur: Alfred Brendel, Pianist mit Kultstatus, durchdringt das Werk auch geistig. Ein Rückblick auf zwei Konzertabende des Solisten in der Philharmonie ■ Von Annette Lamberty
Richtig zum Zuge kam die eingefleischte Alfred-Brendel-Gemeinde erst vorgestern. Ob dies in der Überzeugung wurzelt, das Solo-Recital sei im Vergleich mit dem Orchester-Konzert nun mal das Sahnehäubchen der pianistischen Darbietung... Die Frequenz musikintellektueller Schlachtenbummler, durch sündhaft teuere Kassengestellimitate blickend, war jedenfalls selten ähnlich hoch. Herr Brendel wird's zur Kenntnis genommen haben, ganz sicher und bestimmt.
Kultstatus haben Brendel- Abende nicht erst, seit fast alle charismatischen Pianisten der älteren Generation in den letzten Jahren wie die Dominosteine ins Grab gefallen sind. Nein, seine Einstellung, Inspirationen bewußt jenseits des Tellerrands der Tastatur zu suchen, und seine Überlegungen dazu in Texten und Videos plausibel zu machen, wird vom Publikum außerordentlich honoriert.
Bevor es jedoch nun also vorgestern zu dem Ereignis geistig durchdrungener Tastenkunst kam, trat Brendel am Wochenende mit Beethovens 4. Klavierkonzert auf. Weit davon entfernt, das Klischee heroischer Monumentalästhetik zu bedienen, läßt Beethoven dieses Konzert mit einer solistischen Phrase beginnen, wie sie fragiler kaum sein könnte.
Zwar gelang Brendel am Freitag der heikle Switch von der Macht äußerer Eindrücke beim Betreten des Podiums hin zur Introvertiertheit dieser Phrase fast auf Knopfdruck, insgesamt war er jedoch nur begrenzt in der Lage, den ersten Satz differenziert und farbig zu gestalten. Fast durchweg zu laut, degradierte er das Orchester auf eine subalterne Rolle und ließ deutliche Züge von Hektik erkennen, die ihn schon mal befällt, wenn es nicht so läuft wie eigentlich geplant.
Die eher selten zu hörende zweite Kadenz Beethovens trägt im Autograph die Überschrift „Cadenza ma senza cadere“, um mit einem Augenzwinkern auf die zahlreichen Fußangeln hinzuweisen, die in ihr lauern. Sperrig und bizarr integriert sie sich keineswegs in den eher verhaltenen Kontext. Wie Brendel selbst sagt, besteht für ihn der Reiz dieser Kadenz in der Wandlung vom Architekten Beethoven zum plötzlichen „Amokläufer“. Aber wie so oft, wenn Brendel mit sich zu hadern beginnt, suchte er Hilfe beim rechten Pedal, überzog die Kadenz mit Weichspüler und sabotierte damit geradezu die ihr eigentümlichen Ecken und Kanten: Ein potentieller Amokläufer, rundum in Watte gepackt.
In den folgenden Sätzen präsentierte sich Brendel dann wie ausgewechselt. Nun beherrschte er die Gratwanderung zwischen intellektueller Analyse und fast anrührender plastischer Farbenvielfalt: alles im Griff. Beethovens bevorzugte Kompositionspraxis, Phrasen aufzusplittern, neu zu verknüpfen, abzubrechen und wieder anzusetzen, wodurch der für ihn so typische Vorwärts-Gestus entsteht, potenzierte Brendel, indem er die Motivsplitter äußerst unterschiedlich akzentuierte.
Beim montäglichen Schubert- Abend spann Brendel den Bogen von dessen früher a-moll-Sonate op. 164 über die Impromptus op. 142 bis hin zum pianistischen Schwanengesang der B-Dur-Sonate op. posth. Obwohl in der frühen Sonate bereits Schuberts beliebte Methode der Verschiebung in unerwartete Tonarten ausgeprägt ist, so werden doch die natürlichen Grenzen von Raum und Zeit noch wie selbstverständlich respektiert.
In der B-Dur-Sonate ist dies nicht mehr der Fall. Vor allem in den ersten beiden Sätzen fließen und schweben die Themen, ohne auf ein erkennbares Ziel hinzusteuern, und leben vor allem durch die vielseitigen harmonischen Beleuchtungen. Diese Weitläufigkeit ist der Grund dafür, daß Brendel auf die Wiederholung der Exposition schlicht verzichtete (unter anderem, um „die Konzentration des Publikums nicht zu überfordern“). Zeit und Gelegenheit, den Themen ein unterschiedliches Kolorit zu geben, gibt es in der Tat genug.
Dabei verfuhr Brendel offensichtlich nach der Devise: weniger ist mehr, anders als Horowitz, der die Harmoniewechsel gern aufwendig vorbereitete und ihnen damit oft den Effekt raubte, mimte Brendel oberflächlich betrachtet Harmlosigkeit. Das Positive in diesem Fall ist, daß er das Stück aber auch nicht ins Virtuosen-Korsett zwang, sonder es vielmehr behutsam durch dezent gezielte Akzente scheinbar von selbst zur Entfaltung kommen ließ.
Seine Stärken liegen ohnehin im piano, und zwar in allen Registern. Das Motto des dritten Satzes galt bei Brendel genaugenommen für alle vier: con delicatezza.
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