Stete Verinselung und Meteoriteneinschläge

■ Wie mit der Fleetachse die letzte Chance vertan wurde, Leben in die Innenstadt zurückzubringen Von Till Briegleb

Die Entwicklung der Fleetachse von der Stadthausbrücke zur Elbe ist neben dem Konzept der „Perlenkette am Hafenrand“ das sicherlich bedeutendste Stadtentwicklungsprojekt der Hansestadt der letzten zehn Jahre. Ausgehend von einem städtebaulichen Wettbewerb zur Fleetinselbebauung im Jahre 1980 entwickelte der ein Jahr später ins Amt tretende Oberbaudirektor Egbert Kossak mit zwei Hamburger Architekturbüros die Konzeption, die jetzt mit der Fertigstellung des Deutsch-Japanischen Handelszentrums vollendete Wirklichkeit ist. In euphorischen Reden und pathetischen Visionen beschwor insbesondere Kossak hier die Entwicklung einer „neuen Stadt“, die Hamburg eine „verstärkte, räumlich und baukulturell erweiterte Identität“ geben könne. Zwar stand schon damals die Befürchtung im Raum, daß unter dem Deckmantel zweifelhafter architektonischer Visionen die Innenstadt endgültig dem gestalterischen Wollen von Investoren ausgeliefert wird. Aber als der Gewinner des städtebaulichen Wettbewerbs, der Architekt Volkwin Marg, bei der Präsentation des Fleetinselmodells 1989 davon sprach, „ein Musterbeispiel urbaner Mischung“ erreichen zu wollen – nachdem sein Masterplan vorher den kompletten Abriß der verbliebenen Altbausubstanz empfohlen hatte – verstummte die Kritik vorläufig. Nun, wo die Fleetbebauung bis auf ein ungewisses weiteres Wohnbauprojekt für Gutverdiener am Alsterfleet abgeschlossen ist, läßt sich resümieren, wie dieses „Musterbeispiel urbaner Mischung“ in der Realität aussieht.

In Hamburgs U-Bahnen hängt seit einiger Zeit ein Plakat, mit dem die Stadt unter dem Titel „Hau ab!“ mit folgendem Text für sich selbst wirbt: „Sucht entsteht, bevor sie auffällt. Zum Beispiel, wenn für Kinder kein Platz ist. Wir! Handeln bevor Sucht entsteht.“

An der Fleetachse längs des Herrengrabenfleets klemmt seit der Fertigstellung des mittleren Teilstückes 1993 ein Kinderspielplatz zwischen zwei Backsteinwänden, vor den man unter dem Titel „Hau ab!“ folgendes Schild aufstellen sollte: „Hier entsteht Sucht, bevor sie auffällt. Darum kaufen Sie sich ein Haus im Grünen, wenn sie unbedingt Kinder haben wollen. Wir! Handeln, wo Profitsucht entsteht.“ Vielleicht sollte man der Vollständigkeit halber unter diese Warnung noch die Urheber setzen: „Mit freundlichen Grüßen, Bernhard Winking, Architekt; Egbert Kossak, Oberbaudirektor.“

Um es noch plastischer zu machen, warum diese wenigen Quadratmeter, die man nicht einmal einem hüftkranken Rauhhaardackel zum Auslauf anbieten würde, so exemplarisch für das stadtplanerische Verständnis Hamburgs sind, muß man von hier räumlich und gedanklich etwas ausschwärmen.

Der Alptraum schläft im Detail

Es ist verkaufsoffener Sonnabend nachmittag. Der Himmel ist wolkenlos, 24 Grad, ein lauer Wind weht. Wir befinden uns auf der von der Europäischen Gemeinschaft preisgekrönten „Fleetachse zwischen Alster und Elbe“, Abschnitt Herrengraben. Auf diesem Teilstück befindet sich zu diesem Zeitpunkt, wo das „Zentrum“ einer Stadt eigentlich aus allen Nähten platzen sollte, genau ein Mensch auf der Straße: der Autor. Die beiden gastronomischen Betriebe, die der Herrengraben beherbergt, sind geschlossen, das einzige Geräusch verursacht die Blechlawine auf der Ludwig-Erhard-Straße, und das, obwohl hier der Alibi-Wohnblock des Ensembles mit knapp 70 Wohneinheiten steht.

Gegenüber des Spielplatzes, auf den man nach wenigen Metern stößt, befindet sich ein raumidentischer Vorhof der dortigen Neustadtbebauung, Hamburger Burg genannt. Das ist nicht unwichtig, denn hier zeigt sich bereits das entscheidende Mißverständnis des Projektes „Fleetachse“ in einem Detail: Stadtplanung an dieser Stelle ist über allem die Umsetzung eines formalen raumästhetischen und architektonischen Konzeptes, dem sich jede Funktionsanalyse bis zur Farce unterordnen muß.

Die beispielhafte Farce dieses Spielplatzes könnte man allerdings im Vorbeigehen leicht übersehen, wenn hier nicht doch zwei Kinder anwesend gewesen wären. Und „anwesend sein“ ist mit Sicherheit der richtige Ausdruck. Denn das ganze Areal umfaßt eine Sandkiste und drei rote Standardwippen, sowie eine Sitzgelegenheit, auf der in diesem Fall ein genervter Vater seine Zeitung vor- und zurückblättert. Genervt, weil die beiden Geschwister, die hier alleine spielen müssen, sich ständig aggressiv um dieselben Backförmchen streiten. Daß dieses Kindersilo, an drei Seiten vermauert und zur vierten mit Autos verstellt, nur Aggression und Angst erzeugt, begreift jeder – nur der Architekt nicht.

Es gibt viele weitere Details, die belegen, daß Egbert Kossaks stets mit rührigem Ton herausposaunte Vision von der „Stadt für die Bürger“ pure, wenn vielleicht auch gut gemeinte Propaganda ist, die weder von ihm selbst, noch von den beteiligten Architekten wirklich ernst genommen wird. Und Detailbeobachtung ist in solchen Fällen weit effektiver, als sich mit den großen Konzepten dahinter zu beschäftigen. Denn ob diese funktionieren, sprich: ob diese den Stadtbewohnern einen Vorteil bieten oder nur den unmittelbaren Nutznießern (Architekten, Investoren, Maklern), das zeigt sich weniger mit Blick auf einen geschmackvollen Bebauungsplan, als vor Ort.

Regionalistische Todesstarre

Dafür bleiben wir noch eine Zeit beim Architekten Bernhard Winking, der im städtebaulichen Wettbewerb 1980 den zweiten Platz errang und schließlich das Gros der Bauaufgaben ergatterte. Zum Beispiel mag Bernhard Winking keine Rollstuhlfahrer, oder keine Radfahrer, oder keine Kinderkarren, oder alles drei nicht. Denn wer aus dieser Gruppe einmal versucht, an dem einzigen Stück, wo der Passant dem Fleet nahekommen kann, an Winkings Fleethof, am Wasser längszurollen, scheitert nach wenigen Metern an Treppen. Woh-nungsbauten ohne Balkons und verspiegelte Erdgeschoßzonen zeigen ebenso deutlich wie die Zerstörung des städtischen Grundrisses durch die Überbauung von historischen Wegen mit dem Fleethof, daß Bernhard Winkings Architektur skulpturalem und nicht menschlichem Maßstab folgt.

Wenn die Architektur dann wenigstens Qualität hätte, wäre man ja geneigt, einem gewissen Ablaßhandel zuzustimmen (ein Mehr an Schönheit für ein Weniger an städtischen Funktionen), aber dem ist nicht so. Winkings Architekturen an der Fleetachse sind ein vulgärer Abklatsch der auf handwerklichen Grundsätzen beruhenden, hervorragenden Backsteinarchitektur der 20er Jahre. Bereichert um etwas postmodernen Schnickschnack ergibt die von Winking geprägte Fleetachse zwar ein räumlich interessantes Ensemble, das man aber am Besten nur in der Fluchtperspektive von den Brücken her betrachtet. Denn von hier aus verdichtet die optische Verkürzung die ästhetische Armut zur Canon-Atmosphäre.

Überhaupt sind von den 17 Einzelbauten, die in den vergangenen zehn Jahren hier entstanden sind, nur drei Projekte architektonisch so eigenständig, daß sich eine Betrachtung unter künstlerischen Gesichtspunkten lohnt. Das sind der Ost-West-Hof (Architektin: Mirjana Markovic), Gruner + Jahr (Otto Steidle und Partner) sowie das gerade bezugsfertig gewordene Deutsch-Japanische Handelszentrum (von Gerkan, Marg und Partner). Dabei sollte qualitätvolle Architektur einmal ein Markenzeichen dieses Projektes werden.

Doch wie soll diese entstehen, wenn Hamburgs Architekten und Architekturprofessoren so gerne von der gehobenen Durchschnittlichkeit der regionalen Architektur schwärmen und das von Gert Kähler so treffend als „Schwarzbrot“ beschriebene Lokalkolorit mit der völlig unsinnigen Schutzbehauptung, man wolle „in Hamburg keinen Architektenzoo“ (Kossak), verteidigen. Dabei genügen wenige Blicke in wirkliche Metropolen, um festzustellen, das künstlerisch schöne, detailversessene und klug konzipierte Bauten eines der entscheidensten Merkmale urbaner Lebensqualität sind. Regionalismus, wie in Hamburg praktiziert, ist dagegen nur in zusammenhängenden Quartieren ein Gewinn. In einer ästhetisch derartig desperaten Lage wie Hamburgs Innenstadt ist Regionalismus Provinzialismus.

Baukunst ist möglich

Otto Steidles Konzept der Treppen und Gassen, das er für Hamburg als Referenz an das hier einst beheimatete Gängeviertel verstanden wissen will, ist so gesehen eine wohltuende Ausnahme. Zwar hat dieser Bau viel Kritik einstecken müssen. Aber gerade seine lokalen Opponenten haben es bis heute versäumt, zu beweisen, wie man innnerhalb der roten Farbpalette ihrer Erzeugnisse ähnlich qualitätvolle Akzente setzt. Gerade in seiner jetzigen Umgebung zwischen der bemüht dynamischen Kehrwiederspitze und der Anhäufung Winkingscher Magerstufen-Architektur zeigt dies Hochzeitskleid in Backsteinstiefeln, warum Architektur sich zu den Künsten schlägt.

Kritisieren läßt sich mehr die Standortentscheidung. Denn die riesige Monostruktur mitten zwischen zwei traditionellen Wohngebieten ist ein weiterer Baustein in der verhängnisvollen Verinselung der innerstädtischen Wohnquartiere, sowie der schleichenden Vertreibung ihrer Bewohner durch eine problematische „Aufwertung“. Und daran wird auch die vor der Entscheidung stehende „soziale Erhaltensverordnung“ für die südliche Neustadt wenig ändern, weil sie das wichtigste Vertreibungsinstrument, die Umwandlung billigen Mietraums in Eigentumswohnungen, nicht verhindert.

Absurderweise war es gerade die „kreative Atmosphäre“ des benachbarten Viertels, weswegen der Verlag darauf bestand, hier und nicht in Hammerbrook, wie der Bezirk es wollte, zu bauen. Natürlich gehorchte die Stadtpolitik – angeblich unter der Drohung „dort oder gar nicht“ – und schwieg sich über die möglichen Folgen eines solchen Meteoriteneinschlags aus.

Markovic' Ost-West-Hof entwickelt aus der relativ bescheidenen Bauaufgabe eine Dynamik, die ohne jede Aufdringlichkeit aus dem Erbsen-und-Möhren-Einerlei der Hamburger Kontorhausarchitektur ausbricht. Wie der fein verzierte Kopf eines schmucklosen Spazierstockes beschließt die elegant gerundete, grün verglaste Fassade die Backstein-Schanze, die unterhalb des Michels ansetzt. Sie nimmt damit ein Motiv von Erich Mendelsohn auf: den Dialog mit dem Verkehr. Nur transformiert sie die Vorlage in eine Form, die der konservativen Grundtendenz der Hamburger Baukultur Tribut zollt, ohne auf eine ganz persönliche Note zu verzichten. Im Rahmen einer genius loci-Architektur ist dies eines der ganz wenigen geglückten Beispiele in Hamburg.

Ein anderes ist das Deutsch-Japanische Handelszentrum. Das erstaunliche an dem Hamburger Büro von Gerkan, Marg und Partner, die diesen Abschluß der Fleetachse zur Stadt entworfen haben, ist dabei, daß sie auf Steinwurfweite drei Gebäude entwerfen können, deren Qualität von plumpestem Investorenchic (Hypobank am Graskeller) über eine kauderwelschende Kopie des Chilehauses (Steigenberger) zu einer konzeptionell überzeugenden Kreuzung verschiedener, inhaltlich begründeter Aspekte reicht. Denn das Deutsch-Japanische Handelszentrum referiert sowohl auf die japanische Holzhaus-Architektur als Vorbild der klassischen Moderne, wie auf diese selbst, wie auf Fritz Schumachers beste und späte Bauten, die „das weise Spiel mit Körpern unterm Sonnenlicht“ (Le Corbusier) in Backstein zeigten. Die zisilierte Rhythmik verschiedenster Rechteckformen im Verhältnis zu den strengen Notenlinien der horizontal gerechten Backsteinstruktur erzeugt ein melodiöses Gebäude, dem auch das spektakulär applizierte Glasflügelchen nicht ernsthaft schaden kann.

Musterbeispiel wofür?

Was ist nun übrig, von dem „Musterbeispiel urbaner Mischung“? Eine die meiste Zeit des Tages verödete Stadtlandschaft, deren Mischung aus Büros, Einzelhandel, Freizeiteinrichtungen und Wohnungen nicht stimmt. Neue dunkle, lebensfeindliche und angsterzeugende Ecken, die zudem keinerlei Kerben übriggelassen haben, in denen sich neue urbane Samen einnisten könnten. Verbindungen zwischen Stadt und Hafen, die absolut niemand nutzen mag. Sowie architektonisch eindimensionale Gebäude, deren Unterschied zur angeblich „unwirtlichen“ 50er Jahre-Architektur darin besteht, daß sie kein Distanzgrün mehr besitzen. Die beiden einzigen Vorteile dieser Konzeption sind einige interessante Tunnelblicke und ein gestiegenes Steueraufkommen in der Innenstadt. Vor diesem Hintergrund kann man der Stadt nur wünschen, daß sie sich vor weiteren Musterbeispielen verschont. Allein: das nächste ist schon in der Mache. Es heißt orakelnd „Kehrwieder“.