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Mit Freak Jesus ins 21. Jahrhundert

■ Das Duo „Autechre“bescherte dem Publikum mit einem Zitatencocktail die entspannteste Art, ein „Konzert“zu genießen

So kurz vor dem Anpfiff des 21. Jahrhunderts muß man sich schon mit einigem abfinden: Leute tragen wieder diese achselnässenden Ny-lonhemden, und Tanzmusik wird nicht mehr auf Gitarren produziert. Kulturpessimismus hin oder her, im Modernes stand am Dienstag der Genosse Computer im Rampenlicht. Da wurden Knöpfchen gedrückt und Regler geschoben, wo früher Schlagzeuger schwitzten oder bis vor kurzem wenigstens noch Rapper-Daumen auf Vinyl herumschubberten. Das elektronische Aufwärmen sollte DJ Mark Broom besorgen. Doch der große Saal am Neustadtswall bot abends früh um acht bestenfalls die Atmosphäre einer Nachmittagsdisco. Von den Rängen strömten die „Jugendlichen“erst zum Hauptact zusammen.

Autechre schlugen sofort alle mit einem wohlgewählten ersten Satz in ihren Bann, wobei die baßlastige Grundlinie bereits nach zehn Minuten sämtlich anwesende Herzklappen synchronisierte. Die ehemaligen Graffiti-Künstler Sean Booth und Rob Brown leisteten ordentliche kardiologische Arbeit an einem Publikum, das sich vornehmlich aus der komplett angetretenen Bremer DJ-Schickeria und ein paar Simpsons-FreundInnen zusammensetzte.

Sicherlich beäugten einige kritische Experten, inwieweit die Programmier-Künstler über bloßes Handwerk hinausgingen. Der Rest aber überließ sich willenlos einem ausgetüftelten Soundteppich, dem wohlsortierten Scheinwerferballett und jener psychedelischen Wirkung, die elektronische Musik im besten Falle haben kann.

Man mußte nicht die Beats zählen, um festzustellen, wie vielseitig die Einflüsse in der aktuellen Autechre-Show sind. Doch die Zuhörer würdigten mit Jubelrufen, wenn ein plötzlicher Break-Beat aus dem Dschungel geschlichen kam oder in zwei Akkorden verrückte Zitate von Morricone bis Afrika Bambaataa angedeutet wurden. Daneben gab es die üblichen virtuellen Zaubereien: Streichersätze werden heutzutage zu simulierten Wassertropfen, und Trommeln transponiert man so weit in die Tiefe, bis nur noch ein zerfetzter Baß im Zwerchfell kribbelt.

Das zugleich spannende und meditative Autechre-Gesamtkunstwerk ließ dabei die Tanzbarkeit nicht missen. Und an dieser Stelle ist es beruhigend zu sehen, daß es an Dancefloor-Bewegung auch kurz vor der Jahrtausendwende nicht viel Neues gibt: Neben der Ausdruckstänzerin und dem coolen Käfertreter schlingerte ein Jesus-Freak barfuß über das Parkett. Da hat sich seit dem Tod der Gitarren wohl kaum etwas getan.

Helene Hecke

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