Der schlafende Riese regt sich

■ Die Gewerkschaftsföderation, Erbin der Sowjetgewerkschaft, mit ihren 45 Millionen Mitgliedern wird erst langsam aktiv

Wer heute an russische Gewerkschaften denkt, dem fallen die Bilder aus dem Sommer 1989 ein: Die zentralen Plätze der Städte im sibirischen Kusbass-Becken waren damals schwarz von den Massen streikender Bergarbeiter. Die Hauptorganisatorin der gegenwärtigen Protestaktionen, die FNPR (Federazija Nesawisimych Profsojusow Rossij – zu deutsch: Föderation Unabhängiger Gewerkschaften Rußlands), hat mit der damaligen spontanen und politisierten Arbeiterbewegung allerdings wenig zu tun. Das Eigenschaftswort „unabhängig“, das sie im Namen führt, spricht, milde gesagt, für die Phantasie ihrer Begründer. Die 45 Millionen Mitglieder dieses Verbandes – zusammengefaßt in 38.000 Grundorganisationen – dürften ihm zum Teil aus Gewohnheit angehören. Denn die FNPR ist direkte Erbin des allumfassenden sowjetrussischen Gewerkschaftsverbandes WZSPS – und dies nicht nur im übertragenen, sondern durchaus im eigentumsrechtlichen Sinne.

Für die Bosse der sowjetischen Gewerkschaften war es nicht ungewöhnlich, auf der nächsten Stufe der Karriereleiter Direktoren ihrer Betriebe zu werden. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die ArbeiterInnen mit der Zuteilung irgendwelcher Miniprivilegien im Zaum zu halten. Das war der Urlaub für die eine, das Sanatorium für den anderen und die in den Geschäften weit und breit nicht zu erspähende Waschmaschine für die dritte. Ihren neuen Namen trägt diese Gewerkschaft seit sechs Jahren. Nach dem Ende der Perestroika verhielt sich die Mammutorganisation aber erst einmal wie Oblomow, der Held von Iwan Gontscharows russischem Romanklassiker, der eines Tages den beneidenswerten Entschluß faßt, sein Bett nicht mehr zu verlassen.

Inzwischen hat die FNPR zumindest ein Bein aus den Federn gestreckt. Anders wäre der Vertrauensverlust unter den Werktätigen nicht mehr aufzuhalten gewesen. Zudem wächst eine junge, aktivere Generation von Gewerkschaftern nach. Und auch die Gesetzeslage ist nicht mehr die, die sie einmal war. Heute ist es verboten, Werktätige wegen Zugehörigkeit, aber auch wegen Nichtzugehörigkeit zu irgendeiner Gewerkschaft zu diskriminieren. Der heutige Vorsitzende Michail Schmakow erhebt auch nicht mehr den Anspruch, seinen Grundorganisationen irgendwelche Anweisungen zu erteilen. Die BuchhalterInnen in den Betrieben dürfen Gewerkschaftsbeiträge – ein Prozent vom Lohn – heute nur noch mit Zustimmung der Mitglieder abziehen. Da diese aber Billionen Rubel an Gehältern nicht bekommen haben, schulden sie auch der Gewerkschaft 500 Milliarden.

In der letzten Zeit ist die FNPR zum Kern einer mächtigen oppositionellen Bewegung geworden und könnte eigentlich der Regierung ihre Bedingungen diktieren – wenn sie nur wüßte, welche. Die Leitung der Gewerkschaft ist kategorisch dagegen, über andere Ziele zu reden als über die Verbesserung der Lebensbedingungen der Werktätigen. Im übrigen unterstützt sie durchaus die marktwirtschaftlichen Reformen und bekrittelt im Gegegenteil, daß zu viele große Monopole in der Schwerindustrie und auf dem Energiesektor übrig geblieben sind, die den Preis der Arbeitskraft selbstherrlich diktieren.