: Versprechen auf eine gute Welt
Von allen Menschenrechtskonventionen wurde die UN-Konvention über die Rechte von Kindern am schnellsten bestätigt – und wird systematisch verletzt, was zahllose Straßenkinder, Kinderarbeiter und -soldaten belegen ■ Von Caroline Moorehead
Es war vor allem diese eine Geschichte von den vielen Hunderten, auf die Graça Machels Team bei der Zusammenstellung des United Nations Report über die Auswirkung bewaffneter Konflikte auf Kinder gestoßen war, die keiner von ihnen vergessen konnte. Erzählt hat sie ein neunjähriges Mädchen aus Liberia. Sie beschrieb, wie ihr Dorf von einer der plündernden Banden angegriffen wurde, die das Land seit sieben Jahren zum Schauplatz eines permanenten Bürgerkriegs gemacht haben. Sie erzählte, wie sie zusah, als „19 oder 20“ Menschen aus ihrem Dorf erschossen wurden, „fast alles ältere Leute, die nicht schnell genug laufen konnten“. Ihr Onkel wurde von einer Kugel in den Kopf getroffen, und sie schaute auch dabei zu, wie ihr Vater gezwungen wurde, den Leichnam zu zerhacken. Später sah sie, wie ihre neunjährige Kusine vergewaltigt wurde.
Gewalt gegen Kinder, Kinder, die zu Gewalttätigkeiten gezwungen werden und die Auswirkungen permanenter Gewalttätigkeit um sie herum haben bei den Menschenrechtsorganisationen der Problematik von Straßenkindern und Kindesmißbrauch den Rang abgelaufen und sind zu den beherrschenden Themen der späten Neunziger geworden. Hier haben Statistiken ihre Schockwirkung noch nicht verloren. In den letzten zehn Jahren sind etwa 2 Millionen Kinder in Kriegen getötet worden, sechs Millionen haben mit schweren Verletzungen und Behinderungen überlebt. Fast 30 Millionen Kinder sind zu Flüchtlingen geworden.
In Sarajevo, heißt es, hat mehr als die Hälfte aller Kinder erlebt, daß auf sie geschossen wurde, 66 Prozent waren in Situationen, in denen sie glaubten, sie müßten sterben. In Angola wurden 67 Prozent aller Kinder Zeugen von Folter und schweren Mißhandlungen, oft an ihren eigenen Angehörigen. In Ruanda haben bis auf sehr wenige Ausnahmen alle Kinder mindestens ein Familienmitglied verloren; 16 Prozent überlebten versteckt unter den Leichen ihrer Angehörigen. Nach den Massakern an den Tutsi erklärten Kinder in Ruanda, es sei ihnen egal, ob sie je erwachsen würden.
Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes wird in diesem Jahr sieben Jahre alt. Von allen Menschenrechtskonventionen, die je zur Verabschiedung vorgelegt wurden, war sie die am schnellsten ratifizierte. Alle, außer einer Handvoll Staaten, darunter besonders zögernd die USA, haben sich auf die eindeutig und umfassend formulierten Prinzipien der Konvention verpflichtet. Den Kindern wird darin nicht nur eine bessere, sondern sogar eine gute Welt versprochen – wahrhaft ein Grund zur Freude, wenn man bedenkt, daß 90 Prozent der zwei Milliarden Kinder dieser Welt in Ländern leben, die sich mit ihrer Unterschrift gar nicht genug beeilen konnten.
Doch ebenso wie bei der Konvention gegen Folter ist auch hier viel Heuchelei im Spiel. Die Konvention für die Rechte des Kindes wird systematisch und schamlos verletzt, am häufigsten gerade von den Ländern, die als erste unterschrieben haben. Nahezu alle Mißstände, die durch das Übereinkommen abgestellt werden sollten, haben seit der Unterzeichnung nur noch zugenommen. Zugleich gibt es mehr Menschenrechtsorganisationen und internationale Hilfsagenturen als je zuvor, die sich Kindern, ihren Rechten und ihrer Unversehrtheit widmen. Nahezu täglich werden Berichte veröffentlicht: über genitale Verstümmelung von Mädchen, Tretminen, Prostitution... Größtenteils klingen sie resigniert und pessimistisch.
Im Jahre 1945 gab es in Europa eine unvorstellbare Anzahl von Flüchtlingen: Etwa 40 Millionen Menschen, die durch den Krieg ihr Heim hatten verlassen müssen oder von den Nazis deportiert worden waren, quälten sich wieder nach Hause. Viele suchten verzweifelt nach verlorenen Angehörigen, und es gibt kaum eine schmerzlichere Erinnerung an den Krieg, als die damals überall bei der Polizei und auf Bahnhöfen aushängenden Fotos von Kindern, die ihre Eltern verloren hatten oder deren Eltern sie jetzt suchten. Unter den Aufnahmen von Babies, die kaum sitzen konnten, standen oft nur die Worte: „Wer bin ich?“
Dasselbe wiederholt sich heute in Ruanda, wo 100.000 Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Die meisten sind zwischen zwei und acht Jahre alt – zu alt, um von ihren Müttern getragen zu werden und zu jung, um erklären zu können, wer sie sind und woher sie kommen.
Mit Hilfe moderner Computer und Dateien haben Unicef und das Internationale Rote Kreuz beeindruckende Arbeit geleistet und 33.000 dieser Kinder mit überlebenden Angehörigen zusammenführen können. Wie damals in Europa nach dem Krieg hängen in allen Flüchtlingslagern Anschläge mit Kinderbildern. In Ruanda bezeichnet man diese Kinder als „unbegleitet“, ein Ausdruck mit tröstlichem Klang – als ob das alles nur eine Reise wäre, an deren Ende die glückliche Wiedervereinigung steht. Aber der Gedanke an das, was diese Kinder erlebt haben, hält wenig Trost bereit.
Aus Afrika wurde der Kontinent, in dem Kinder alles über den Krieg lernen. Die Bevölkerung von Uganda, Burundi, Zaire, Somalia, Angola, Mosambik, Liberia und im Sudan hat jahrelang im permanenten Bürgerkrieg gelebt – und tut es oft immer noch. Kinder ab sieben Jahre wurden von Regierungs- oder Guerillatruppen durch Entführung oder Versprechungen zu Soldaten gemacht. Die Konvention schreibt als Mindestalter für Soldaten 15 Jahre vor, die Forderungen nach einer Erhöhung auf 18 Jahre ist zwischenzeitlich lauter geworden.
Infolge – selten lange anhaltender – Waffenstillstände und Friedensabkommen sind automatische Waffen unter der zivilen Bevölkerung weit verbreitet – wie des AK-47, das so leicht zu tragen und zu bedienen ist, daß kleine kräftige Jungen kein Problem damit haben. Und es werden immer kleinere Kinder gebraucht, um Kampftruppen aufzustellen. Ein Drittel der Soldaten Liberias sollen Kinder sein. Sie fungieren als Träger und Wächter, befördern Botschaften und stehen an Kontrollpunkten. Da sie schnell und beweglich sind, schickt man sie ins Niemandsland um Waffen zurückzuholen. Fügsam, verschreckt und abhängig wie sie sind, werden aus ihnen perfekte Mörder. Initiationsriten in die Soldatengemeinschaft bestehen angeblich darin, Gefangene zu exekutieren und deren Herz und Leber zu essen, um Mut zu erlangen. Man gibt den Kindern auch einfach Drogen – Amphetamine oder eine Mischung aus Zuckerrohrsaft und Schießpulver –, damit sie „stark und tapfer“ werden.
In dem langwährenden Konflikt zwischen dem islamischen Militärregime des Sudan und der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLA sind vor allem die Nuba- Kinder der südlichen Bergregion Kordofan doppelt bedroht. Regierungstruppen rekrutieren sie gewaltsam für ihre Miliz, um „die Berge zu säubern“, und die Guerillas der SPLA trennen die Kinder von ihren Familien, um sich ein ständiges Reservoir neuer Kämpfer zu sichern. Vor kurzem soll es in Khartum 3.000 Kindersoldaten im Alter zwischen sieben und elf Jahren gegeben haben. Aus den Lagern, in die sie gebracht werden, hört man Gerüchte über Hunger und Krankheiten. Einer dieser Jungen, dem zusammen mit 129 anderen die Flucht Richtung Kenia gelungen war, erzählte dem Mitarbeiter einer Hilfsorganisation kürzlich: „Als wir den Fluß überquerten, sind 34 von uns von Krokodilen gefressen worden.“
Im Sudan gibt es ähnlich wie in Liberia heute kaum noch ein Kind, das weiß, was Frieden heißt. Zwölf Jahre Krieg haben Kinder hervorgebracht, die weder lesen noch schreiben können, den ganzen Tag den Gebrauch von Waffen lernen und täglich größer, stärker – und unempfindlicher gegen jede Gewalt werden. Nicht alle diese Kinder überleben – an manchen Orten kaum eines.
Die gleiche Technologie, die der zivilen Bevölkerung so leichte Waffen bescherte, hat auch kleine, billige und für Jahrzehnte scharf bleibende Tretminen gebracht, um so tödlicher als man sie im Gras nicht sieht. Selbst einer Kampagne des Internationalen Roten Kreuzes, die von einer ungewöhnlich geschlossenen Front aller möglichen Lobbyisten weltweit unterstützt wurde, gelang es kürzlich nicht, das totale Verbot der Herstellung und Verbreitung dieser Minen zu erreichen, von denen laut UN etwa 110 Millionen unexplodiert auf den Feldern der Dritten Welt liegen.
Da ihre Beseitigung zu teuer und zu zeitraubend ist, werden sie noch lange nach dem Ende der Kämpfe hauptsächlich Frauen und Kinder verstümmeln oder töten, die in den Feldern Vieh hüten oder Gras sammeln. Die Verletzungen der Kinder, die solche Explosionen überleben, sind in der Regel schwerer als die von Erwachsenen: Da die Knochen eines Kindes schneller wachsen als das umgebende Muskelgewebe, machen die Wunden mehrere Amputationsoperationen notwendig.
Kaum eine Regierung, die ihre Unterschrift unter die Konvention der Rechte der Kinder so eilfertig gab, hat sich vermutlich etwas dabei gedacht, als sie die Unterschrift unter die Konvention gegen inhumane Waffen verweigerte.
Können einem die Kinder Afrikas alles über den Krieg erzählen, was es zu wissen gibt – in Konkurrenz zunehmend mit den Kindern des Balkans und der ehemaligen Sowjetrepubliken –, so wissen die Kinder Asiens alles über Arbeit.
Bei der gegenwärtigen Flut immer neuer Informationen und Berichte über Kinderarbeit vergißt man leicht, daß Kindersklaverei bis Anfang der siebziger Jahre endgültig einer dunklen viktorianischen Vergangenheit anzugehören schien. Erst als die Anti-Sklaverei- Gesellschaft in London Berichte über Kinder veröffentlichte, die in den Teppichfabriken Marokkos arbeiteten, wo kleine Mädchen gezwungen wurden, den ganzen Tag an Webstühlen zu sitzen, um winzige Muster zu knüpfen, nahm man langsam zur Kenntnis, in welchem Maß die Produktion der Entwicklungsländer auf der Arbeit von Kindern beruht. Der jüngste der vielen UN-Reports von 1996 spricht von weltweit 250 Millionen abhängig arbeitenden Kindern unter 14 Jahren.
Diese Kinder arbeiten in Steinbrüchen und Streichholzfabriken, sie knüpfen Teppiche und helfen in der Landwirtschaft, tragen schwere Lasten und waschen Autos. Und sie verdienen sehr wenig. Viele fangen im Alter von fünf Jahren an zu arbeiten und sind als Erwachsene verkrüppelt, krank und Analphabeten, nachdem sie ihre gesamte Kindheit in heißen, schmutzigen Arbeitsräumen verbracht haben, oft unter extremen Lärmbedingungen, die ihr Hörvermögen auf Dauer geschädigt haben. Heute sterben angeblich mehr Kinder nach Kontakt mit biologischen und chemischen Giften als an Tetanus, Polio oder Keuchhusten zusammengenommen. Auch das ist Gewalt.
Indien stellt mit 60 bis 115 Millionen Kinderarbeitern angeblich die höchste Zahl unter allen Ländern. 15 Millionen von ihnen sind „bonded“, Kindersklaven, die die Schulden ihrer Familien abarbeiten. Zwar besitzt Indien ein höchst rigides Arbeitsschutzgesetz – und beschuldigt seine Kritiker, eine protektionistische Politik zu verfolgen –, aber es zeigt keinerlei politischen Willen, die Kinder des Landes durch eine konkrete Durchsetzung der Vorschriften zu schützen.
Wer gegen Kinderarbeit Front macht, weiß, daß sie von vielerlei Märchen umrankt ist, die sich allesamt als wirksamer Schutz gegen ihre Abschaffung erweisen. Das reicht von der selbstberuhigenden Annahme, Kinderarbeit gebe es nur in der Dritten Welt – dabei gibt es kein einziges reiches Land, in dem nicht auch Kinder arbeiten, zumeist sind es Einwanderer- und Minderheitenkinder – bis zu dem Argument, daß Kinder ausschließlich in Zweigen der Exportindustrie zu finden sind. (ILO geht von etwa fünf Prozent aus.)
Ein trauriges Beispiel dafür, was passiert, wenn man Kinderarbeit durch die Sanktionierung ihrer Arbeitgeber zu beschneiden versucht, ist das sogenannte Harkin-Gesetz des US-Kongresses. Es verbietet die Einfuhr von Produkten, die von Kindern unter 15 Jahren hergestellt wurden. Die entsprechenden Firmen der Textilindustrie in Bangladesch, die 60 Prozent ihrer Produktion in den USA absetzen, reagierten mit sofortiger Entlassung der Kinder, zumeist Mädchen. Als Sozialforscher sich später auf die Spur dieser Kinder setzten, um die Wirkung des Gesetzes zu erkunden, fanden sie die kleinen Arbeiterinnen in Jobs, die wesentlich gefährlicher waren als ihre frühere Arbeit in der Textilindustrie. Sie verdienten weniger, und einige waren Prostituierte geworden. 1996 kündigte die Organisation ILO die Abfassung einer neuen Konvention an, die speziell „unerträgliche“ Formen der Kinderarbeit ins Visier nehmen soll.
Auch Prostitution und Mädchenhandel sind Gegenstand vieler Märchen. Und ähnlich wie die Mythen über Kinderarbeit dienen auch sie in erster Linie zur Beruhigung und Vernebelung, und sie verdrehen nur die Tatsachen. Der erste Weltkongreß gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern fand 1996 in Stockholm statt – er spiegelte die besorgniserregende Tatsache wider, daß alle Anzeichen für eine Verschärfung des Problems sprechen. Die Teilnehmer erfuhren, daß Kinderpornographie und -prostitution keineswegs, wie weithin angenommen, auf die Länder der Dritten Welt beschränkt sind und die Ausbeutung vorrangig durch Touristen erfolgt, sondern daß sie in den Kulturen vieler südostasiatischer Länder tief verwurzelt sind, in der Regel als Teil der allgemeinen Diskriminierung von Frauen.
Man erfuhr von der Existenz hocheffizienter und profitabler internationaler Händlerringe, die regelmäßig Kinder über Landesgrenzen hinweg kauften und verkauften. Nach beträchtlichen Verzögerungsmanövern hat sich jetzt auch die britische Regierung den 13 Ländern angeschlossen, die Touristen, die sich der sexuellen Ausbeutung von Kindern im Ausland schuldig gemacht haben, im eigenen Land gerichtlich verfolgen.
Seit Jahren berichtet amnesty international und Human Rights Watch über die Verbrechen der Todesschwadrone in Brasiliens Städten. Mitte der fünfziger Jahre sollen höhere Polizeibeamte diese Truppen als Verbrechensbekämpfungsmaßnahme eingerichtet haben, die sich im Laufe der Zeit auf die Straßenkinder konzentrierten. Deren Zahl nahm stetig zu, vor allem durch die Landflucht der brasilianischen Bauern in Richtung der überfüllten Städte. Die Kinder überleben durch Betteln, Autowaschen und die Abfälle der städtischen Müllhalden. Unicef schätzte schon 1990 die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Brasiliens Straßen leben und arbeiten, auf 7,5 Millionen.
Mit dem rapiden Anstieg von Gewalt und Diebstahl in diesen chaotischen Städten, wurden die Straßenkinder zu Sündenböcken eines Landes gemacht, das wirtschaftlich und sozial kollabierte. Todesschwadrone und sogenannte Bürgerwehren begannen, Kinder umzubringen. Sie waren einfach zu fassen. Ihr Reaktionsvermögen ist in der Regel durch Schnüffeln von Lackdämpfen oder die Abfallprodukte der Kokainherstellung beeinträchtigt. Nach Angaben der brasilianischen Tageszeitung O Dia waren 1993 alleine in einem einzigen Stadtviertel von Rio de Janeiro 68 Todesschwadrone aktiv.
In diesem Sommer verwandelten sich die Klagen über die zunehmende Zahl von Straßenkindern plötzlich in einen öffentlichen Aufschrei, nachdem eine Bande vermummter Männer das Feuer auf fünfzig vor der Kirche von Candelaria schlafende Kinder eröffnet hatte. Acht Kinder starben: vier waren sofort tot, eines starb, als es versuchte wegzulaufen, zwei weitere wurden in nahe gelegenen Gärten zur Strecke gebracht, und das achte Kind starb einige Tage später an seinen schweren Verletzungen. Für eine Weile ließen die Morde nach. Heute jedoch verschwinden wieder Straßenkinder, und man findet ihre manchmal verstümmelten Leichen auf den Müllhalden am Rande der Städte.
Kurz vor dem Massaker an der brasilianischen Kirche hatte auch Kolumbien, berüchtigt für die höchste Mordrate der Welt, sein eigenes Straßenkindermassaker erlebt – und die Empörung der Öffentlichkeit dagegen. In Kolumbien wurde der Ausdruck „limpieza social“ („soziale Säuberung“) – oder die Säuberung der Gesellschaft von „Überflüssigen“ – Bestandteil des Vokabulars zum Thema Menschenrechtsverletzungen. Während einer solchen Epidemie gewalttätiger Kindermorde – täglich starben durchschnittlich sechs Kinder – kam es auch zu dem folgenden Zwischenfall in der Stadt Villatina im Osten von Medellin.
Am 15. November 1992 morgens um neun Uhr standen acht Kinder, darunter die achtjährige Johanna Mazo, mit Mitgliedern einer christlichen Gruppe namens „Walking Builders of the Future“ an einer Straßenecke zusammen, als drei Autos vorfuhren. Ihnen entstiegen zwölf Männer in Zivil. Einer war maskiert, alle trugen Waffen. Die Jungen dachten, es sei Polizei und wollten gerade ihre Ausweise hervorholen, als die Männer das Feuer eröffneten. In der ausbrechenden Panik versuchten einige Jungs Johanna zu schützen. Kurz bevor er starb, konnte einer der Jungen seiner Mutter noch sagen, daß er einen der Männer als Mitglied des Informantendienstes der Polizei F-2 erkannt hatte. Man nahm an, daß diese Morde als Rache gedacht waren für Polizisten, die kurz zuvor bei Schießereien mit lokalen Banden umgekommen waren.
Ganz gegen ihre Gewohnheit protestierten diesmal die Einwohner von Villatina. Eltern der ermordeten Kinder forderten eine Untersuchung. Das ganze Viertel wurde in Alarmbereitschaft vesetzt, nachdem einige Bewohner Todesdrohungen erhielten und Autos ohne Nummernschilder durch ihre Straßen patrouillierten. Wie immer entschied ein leitender Polizeibeamter, eine Untersuchung durchzuführen, und einige Polizisten wurden tatsächlich verhaftet.
In den darauffolgenden Wochen wurden die Verhafteten versetzt, die Untersuchung wurde in die Hauptstadt verlegt, um das Leben der Untersuchungsrichter nicht zu gefährden. Dann stockte die Sache. Zeugen wurden eingeschüchtert und fielen in Schweigen. In der kurzen Zeit, als es so schien, als würde so etwas wie Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen, ergriff Villatina ein Hauch von Optimismus: neue Schulen wurden gegründet, und man trat mit den Straßenbanden in Dialog. Aber Brigadier Hernandez, der Mann, der angeblich den Befehl zum Mord an den Kindern gegeben hatte, wurde dennoch auf seinem Posten als Chef von F-2 belassen. Schließlich wurde es um den Prozeß immer stiller. Die Morde an den „Überflüssigen“ begannen erneut...
Inzwischen haben Ermordung und Einschüchterung von Straßenkindern stark zugenommen und sind nicht mehr nur auf Südamerika beschränkt. Es gibt Berichte über Kinder, die in den größeren Städten Südindiens von der Polizei aufgegriffen werden und dann „verschwinden“. Und es gibt Informationen über von der Polizei verprügelte und verletzte Kinder aus der Türkei (siehe dazu den Text auf diesen Seiten), Bulgarien und Kenia.
Seit Anfang der siebziger Jahre führt die Organisation „Survival International“ Kampagnen für die Rechte von Stammesvölkern durch, die im Lauf der Jahre von Vertreibung bis zu Mord alle nur möglichen Formen von Repression kennengelernt haben. Aber noch nie hatte man gehört, daß sie sich selbst umbringen. 1993 begannen kanadische Innu, die man von ihrem Land und aus ihren Jagdgebieten vertrieben hatte, Selbstmord zu begehen. Unter ihnen auch Kinder. In Brasilien brachten sich viele Kaiowa um, die der stetigen Zerstörung ihres Landes zuschauen mußten. Die meisten davon sind Kinder. Das jüngste bisher bekanntgewordene war Lucienne Ortiz. Sie war neun Jahre alt.
Dennoch darf man nicht alle Entwicklungen in den letzten Jahren nur als Niederlagen betrachten. In den letzten fünfzig Jahren gab es, was die Gesundheit und Ausbildung von Kindern betrifft, mehr Fortschritte als in den 2.000 Jahren davor. Vor allem die Programme der Unicef haben die Kindersterblichkeit auf die Hälfte reduzieren können, und allein in den letzten 20 Jahren ist die Zahl aller geimpften Kinder von 5 auf 80 Prozent gestiegen. Nur die Welt, in der sie aufwachsen, ist immer gewaltsamer geworden.
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