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"Die Industriegesellschaft war gerecht"

■ Interview mit Hartmut Häußermann, Professor für Stadtsoziologie an der Humboldt-Uni: Im Industriezeitalter war das Einkommen relativ gleichmäßig verteilt. In der Dienstleistungsgesellschaft wird die

taz: Fabriken schließen, die Industrieepoche geht ihrem Ende entgegen. Trauern Sie ihr nach?

Hartmut Häußermann: Nein, aber es ist schon grotesk, daß man heute sagen muß: Die Industriegesellschaft zeichnete sich durch eine relativ gleichmäßige Einkommensverteilung aus – im Vergleich dazu, was vorher war und was in Zukunft kommt.

Das Zeitalter der Ausbeutung – ein Hort der Gerechtigkeit?

Der Reichtum wurde teilweise umverteilt, weil die politischen und gewerkschaftlichen Mechanismen vorhanden waren. Vor 30 Jahren haben wir die Industriegesellschaft noch als die schärfste Form des Kapitalismus beschrieben. Jetzt verändert sich die Perspektive.

28 Prozent Arbeitslosigkeit in Kreuzberg, weit unter zehn Prozent in Zehlendorf. Müssen wir uns an die zunehmende Polarisierung der Bevölkerung gewöhnen?

Wenn das Angebot an neuen Stellen in den Dienstleistungsbranchen zunimmt, geht die Arbeitslosigkeit möglicherweise zurück. Sicher ist aber, daß der Unterschied der Einkommen zunimmt. Ein Teil der Beschäftigten der Dienstleistungsgesellschaft wird nur sehr wenig verdienen.

Erwarten Sie ein baldiges Ende der Berliner Wirtschaftsmisere?

Das ist im Moment nicht absehbar. Der Abbau der industriellen Produktion hält an.

Wie lange noch – 20 Jahre?

Nein, nein. Viel weiter kann es ja nicht mehr runtergehen. Und um die Jahrtausendwende werden neue Entwicklungen den Abbau von alten Stellen ausgleichen.

Welches sind die Jobmaschinen der Zukunft?

Vor allem der Dienstleistungsbereich. Damit meine ich erstens die produktionsorientierten Dienstleistungen wie Wissenschaft und industrienahe Forschung. Zweitens Verwaltung, Vertrieb und Handel. Die konsumsorientierten Dienstleistungen als drittes Standbein sind allerdings weitgehend abhängig von den Einkommen der privaten Haushalte. Und die stagnieren gegenwärtig.

Unterstützt der Senat diese Branchen ausreichend?

Die Große Koalition setzt auf High-Tech-Industrie und elitäre Dienstleistungen für wohlhabende Schichten. Man denke an die teuren Einkaufspassagen in Mitte. Die konsumorientierten Dienste für die normalen Leute kommen dagegen zu kurz und werden abgebaut. Vieles davon muß ja der Staat finanzieren.

Liegt dort nicht das größte Potential, um neue Jobs zu schaffen?

Einkaufsmöglichkeiten für den Grundbedarf, soziale und kulturelle Dienste sind für die wirtschaftliche Entwicklung einer Großstadt enorm wichtig. Durch seine rigide Sparpolitik verschärft das Land die Krise.

Was könnte der Senat denn tun, um die Stellen bei den sozialen Dienstleistungen zu vermehren?

Zunächst einmal sollte er das öffentliche Angebot aufrechterhalten. Außerdem kann man Neugründungen von Unternehmen in Kultur, Pflege und Bildung unterstützen, indem aus dem landeseigenen Immobilienbesitz billige Räume bereitgestellt werden.

Beispiel Altenpflege: Private Einrichtungen können auf dem Markt oft nicht bestehen, weil sie zu teuer sind. Die alten Leute können die hohen Gebühren nicht zahlen. Woher soll das Geld kommen?

Der Senat könnte den Großorganisationen Subventionen entziehen und sie an die neuen Kleinbetriebe vergeben.

Das würde bei Wohlfahrtsverbänden Stellen vernichten.

Nicht unbedingt. Die Sozialapparate wuchsen in Zeiten, als Geld keine Rolle spielte. Sie leiden unter immensen Verwaltungskosten. Sparen muß da nicht zu Lasten des Personals gehen.

Was halten Sie davon, daß der Staat neuen Betrieben, die gesellschaftlich notwendige Dienste anbieten, die Lohnnebenkosten finanziert, damit sie Jobs schaffen?

Sehr viel. Qualifizierte Leute, deren Arbeitskraft unter Marktbedingungen zu teuer ist, würden damit in die Lage versetzt, sinnvoll zu arbeiten. Interview: Hannes Koch

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