Die Eiswürfelschlacht

Beim Karneval der Kulturen tobten Fabelwesen aus 40 Nationen durch die Straßen von Kreuzberg  ■ Von Constanze v. Bullion

Die Brasilianerinnen machen mal wieder das Rennen. Gäbe es Medaillen, dann müßten sie Gold kriegen. Für die längsten Beine, die wüsteste Trommel-Combo und die sparsamste Bekleidung. Silber ginge an den peruanischen Hochlandindianer im rollenden Weidenzelt, Bronze an die Rastafari vom Pakistan-Expreß. Ein Sonderpreis für überdurchschnittliches Durchhaltevermögen sollte noch vergeben werden. An die Bielefelder, die unter ihren ägyptischen Fabelwesen fast ersticken. An die halbnackten Helden aus Indien, die unbeirrt mit den Bäuchen kreisen, obwohl die Anlage längst durchgebrannt ist. Und an den ollsten aller Caravans, der aus Irland kommt. Behaupten zumindest die Briten am Straßenrand.

Fast alle Menschen wurden Brüder beim Karneval der Kulturen, der am Wochenende durch Kreuzberg brauste. Über 100.000 Zuschauer haben sich bei tropischer Hitze durch Samba, Calypso und HipHop getanzt. Haben bei Dauerdröhnung und Dosenbier 2.700 DarstellerInnen aus 40 Nationen mit Eiswürfeln beworfen und von der ultimativen Multikulti-Gesellschaft geträumt. „Wir wollen das Riesenpotential der Stadt nutzen“, erklärten die Veranstalter aus der Werkstatt der Kulturen. „Berlin braucht einen Karneval aller Nationen. So was wie Notting Hill wäre Quatsch.“

Notting Hill, das ist das große Vorbild der Berliner Parade – und der wichtigste schwarze Karneval in Europa. Erfunden haben ihn die GastarbeiterInnen aus Jamaika und Trinidad, die sich seit den 50ern in London als Müllmänner oder Putzfrauen verdingten. Was 1965 im Immigrantenviertel Notting Hill mit einer Steelband begann, wurde bald zur politischen Manifestation, zu einem Fest der Befreiung. Die schwarze Bevölkerung Großbritanniens besann sich auf den Stolz der Großeltern. Auf den Karneval in Trinidad, bei dem zu Kolonialzeiten die Sklaven der Zuckerrohrplantagen die Straße eroberten, Tänze und Kampfspielchen aufführten und ihren weißen Herren Freiheitslieder in die Ohren trommelten. Was denen nicht besonders gefiel. In der Karibik nicht und in London auch nicht.

Das britische Establishment hat immer wieder versucht, die bunte Explosion in Notting Hill zu kanalisieren. Vergeblich. Auch Hundertschaften von Polizei, die regelmäßig die Parade stürmten, erreichten nichts als blutige Schlägereien. Inzwischen hat man gelernt, vom Karneval zu profitieren. Er lockt Sponsoren und Touristen an, an den Preisgeldern für die „Best Band On the Road“ beteiligen sich – möglichst medienwirksam – auch die Stadtherren von London.

Nicht so in Berlin. Für den Karneval der Kulturen ließ der Senat keinen Pfennig springen. Immerhin: 150.000 Mark konnten die Organisatorinnen bei der Deutschen Klassenlotterie lockermachen. Ein paar Clubs und Brauereien haben sich als Sponsoren gemeldet. „Aber die meisten Firmen“, hat Koordinatorin Brigitte Walz gemerkt, „sehen unsere Zielgruppe als ungeeignet für Sponsoring an.“

Kein Wunder, daß jede Gruppe ihre Kostüme und Konfettitüten selbst bezahlen muß. „Das kostet ein irrsinniges Geld“, weiß Uschi Dresing, „was wir hier machen, ist ein bißchen Kamikaze.“ Die Fotografin gehört zum Shademakers Carnival Club. 60 Sambaspieler, eine Schulklasse und ein paar muskelstarke Kreativköpfe aus Bielefeld springen als blaue Teufel, als ägyptische Gottheiten oder goldschimmernde Nofretete übers Pflaster. Das schillernde Krokodil, das auf den Vorderbeinen tanzt und neonfarbene Fische um sich spuckt, hat Paul McLaren entworfen. Unter die gelbgrüne Glitterhaut aus Joghurtbechern hat der Kostümdesigner aus Manchester ein Gerüst aus Fahrradteilen, recycelten Plastikrohren und verschweißtem Schrott gesteckt. Etwa 60 Kilo wiegt das Viech auf seinen Schultern, mit dem er 1996 in Notting Hill den ersten Preis gewann.

Schade eigentlich, daß es in Berlin keine Preise gibt, keine Krönchen für frisch gekürte Jungle- Kings und selbsternannte Faschingsprinzessinnen, für die stocksteifen Beine vom Rheinischen Karnevalsverein oder für die Geisterbeschwörer aus Gambia. Schade auch, daß die Kreuzberger Türken nicht mehr Flagge gezeigt haben bei der Ethno-Show. Die wollten sich wohl nicht als Exoten bestaunen lassen und blieben am heimatlichen Grill sitzen.