: Plüsch-Ideal der heilen Welt
■ Biedermeier-Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte: Von Patrioten, Vereinsmeiern und Mäzenen Von Till Briegleb
Daß vieles, was wir heutzutage als rührend und spießig empfinden, seinen Ursprung im Biedermeier hat, wundert angesichts der Sprichwörtlichkeit dieser Epoche kaum. Sitten und Gewohnheiten wie die Geschenkkultur zu Festtagen, die aussterbende Ehrbezeugung via Poesiealben oder die nicht minder vom Verschwinden bedrohten Gesangsvereine haben ihren Ursprung in der Zeit nach dem letzten Krieg gegen Napoleon.
Gerade die heute vielgescholtene „Vereinsmeierei“ war nach der politischen Restauration, die dem Wiener Kongreß von 1815 folgte, eine wichtige Tarnung, um großbürgerliche Subversion unter dem Deckmantel von (männlichen) Zweckgemeinschaften zu betreiben. Denn die Hoffnung des kämpfenden Bürgers und Patrioten, daß nach der Völkerschlacht von Leipzig die Volksmacht in Deutschland folgen würde, hielt nur wenige Monate.
Eine sinnliche Vorstellung von derartigen Debattierzimmern wie von vielen anderen Aspekten dieser Schwellenzeit zwischen altem Regime und industrieller Revolution gibt die Ausstellung Wir treiben jetzt Familienglück im Museum für Hamburgische Geschichte (MHG). Das Originalinterieur einer „heiligen“ Wohnstube, wo das plüschig-strenge Ideal der „heilen Welt“ erfunden und zelebriert wurde, bildet den zentralen Punkt dieser Sonderausstellung.
Und das macht Sinn, war doch diese „gesellschaftliche Urzelle“ der Ausgangspunkt eines ungemein erfolgreichen Weltbildes, das begrenzt wurde von protestantisch-patriarchalen Zwängen und Tabus, das sich aber gleichzeitig nach außen in Wohltätigkeit, Kulturgeist und demokratisch-nationalem Bürgersinn erging.
Auch der Hamburger Mäzenaten-Gedanke entwickelte sich in dieser Zeit. Die Verantwortung des Betuchten für das geistig-kulturelle Leben seiner Heimatstadt führte zum Beispiel zum ersten aufkeimenden Interesse für Denkmalpflege. Zwar konnte durch die Allmacht des Profitgedankens in einer Handelsstadt nicht ein historisch wertvolles Gebäude vor dem Abriß bewahrt werden, aber immerhin begann man mit der Dokumentation der Geschichte in Zeichnungen und Steinfragmenten. Auch die private Pflege der klassischen Musik bestimmte das gesellschaftliche Leben – von der Hausmusik bis zur Gründung eines philharmonischen Orchesters.
Daß diese hehren Ideale, von der reichen Oberschicht zur gültigen Moral verallgemeinert, zu vielen Problemen der Gesamtgesellschaft führten, auch das will die kleine engagierte Ausstellung zeigen. So konnte es sich die gesellschaftliche Mehrheit der Arbeiter, Handwerker und kleinen Angestellten kaum leisten, ohne die Mitarbeit der Frau die Familie zu ernähren. Das Sinnbild vom Verantwortungsbereich der Frau für „Kinder, Küche, Kirche“ setzte aber gleichzeitig die unteren Schichten der moralischen Verachtung aus, weder gebildet noch wohltätig noch wohlerzogen zu sein.
Daß Klassenhaß hier vielfach auch die Werke bejubelter Wohltäter durchzog, zeigen Auszüge aus der Satzung des „Weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege“ der Amalie Wilhelmine Sieveking, die Hilfe nur „für die bessere, rechtliche Klasse der Armen“ gewährt. Wer sich nach dem Urteil der gestrengen Philanthropin im „Zustande moralischer Versunkenheit“ befand, hatte keine Pflege verdient. Ab- und Ausgrenzung blieb der zentrale Mechanismus der biedermeierlichen Natur.
Die Langlebigkeit der dargestellten gesellschaftlichen Normen und Strukturen zu entdecken, die vielfach erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts an Bedeutung verloren, macht den vielfachen Überraschungseffekt dieser Ausstellung aus.
„Wir treiben jetzt Familienglück“, bis 29. Oktober im MHG, Holstenwall, Di – Sa 10-17 Uhr, So. 10-18 Uhr.
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