Schlimmer als 13 Jahre Religionsunterricht

■ betr.: Kirchentaz vom 18. 6. 97

Sex, Sex, Sex, Sex, Sex, Sex, Sex. So, nachdem nun jeder potentielle Leser in diesen Brief eingestiegen sein dürfte, zum Thema:

[...] Ist es vereinbar mit dem Selbstverständnis des kritischen Journalismus, daß acht Seiten lang der Kirchentag hochgelobt wird, uneingeschränkt von einer säkularen deutschen Gesellschaft die Rede ist und das Engagement der evangelischen Kirche in der Vergangenheit und heute als Speerspitze der sozialen Bewegung deklariert wird?

Säkulare Gesellschaft: Warum ist es denn immer noch schwieriger, für ein konfessionsloses Kind einen Kindergartenplatz zu finden? Was ist mit den Schulen? Und was ist mit dem Arbeitsmarkt? Ich hätte doch als konfessionsloser Krankenpfleger (zum Beispiel) größere Probleme einen Job zu finden, als ein konfessionell gebundener. Was ist mit Aufklärungsbroschüren, die nie veröffentlicht werden, weil die Kirche dagegen Sturm läuft? Was ist mit Heimen für ältere Obdachlose beziehungsweise Härtefälle, für die man konfessionsgebunden sein muß? Usw. Die Kirche übt also direkte gesellschaftliche Macht aus. Und ich rede nicht nur von Bayern. Die Trennung von Kirche und Staat ist mehr als das Fehlen von Glaubenselementen, wie zum Beispiel Himmel und Hölle, Gott usw. in den Verfassungen und Gesetzesbüchern.

Aber weiter: Wie kann es sein, daß ich in der taz lesen muß, daß die letzte Rechtfertigung für Menschenrechte etc. der Bezug auf Gott ist? Ich weiß ziemlich genau, daß ein selbstbestimmtes Leben mich glücklich macht und schätzungsweise auch andere Menschen. So einfach kann das sein. Im übrigen reicht mir das als Begründung, ich brauche keine abstrakte Überperson zur letzten Rechtfertigung.

Das Christentum ist und bleibt eine Religion, die das Diesseits mit dem Jenseits begründet und ein Menschenbild vertritt, wonach wir alle „Kinder (weil naiv und einfältig?) Gottes“ sind. Es ist für mich ohne Zweifel, daß daraus anderes Denken und Handeln erfolgt, als wenn ich mich selbstbestimmt sehe und „nur“ mein Gewissen zur Rechtfertigung habe und letztlich auch „nur“ das Diesseits und nicht ein Himmelsparadies, das auf mich wartet. Mal abgesehen von massenpsychologischen Folgen des Glaubens in Politik und Kultur bezüglich der Freiheitsfähigkeit bzw. Heranbildung der Menschen dazu (für Interessierte: vgl. die eindeutig mystischen, weil paradoxen Äußerungen D. Bonhoeffers in dem Artikel: „Das viel zu sichere Netz der Zuversicht“ mit den Darlegungen Wilhelm Reichs). Das dargestellte Bild der toleranten, offenen und menschlichen Kirche stimmt nun mal nicht in der so beschriebenen Unbedingtheit und ist halt nur teilweise korrekt.

Außerdem wird da in einer Zeitung, die sich als links-alternativ versteht, so getan, als wenn jegliche Auffassung, die in diese politische Richtung tendiert, letztlich gescheitert ist und als einzig „gute Macht im Kampf gegen das Böse“ in Form des Neoliberalismus der Protestantismus geblieben ist.

O Frau, o Mann, Menschen, die verklärt zu Gitarrenklängen klatschend durch die Gegend hüpfen als letzte Bastion des wahren Menschentums. Das ist ja schlimmer als der 13jährige Religionsunterricht, den ich ausgehalten habe. Und das alles in der sonst so distanziert-kritischen taz, ohne einen Perspektivwechsel hin zur objektiven Berichterstattung. [...]

„Wir können über alles reden.“ Bitte versteht mich nicht falsch, ich bin sehr an religiösen Dingen interessiert, aber nicht an so einer vereinfachten Schönfärberei.

Na ja, vielleicht war auch alles nur eine verdeckte Satireaktion der Wahrheits-Redaktion, oder ich habe nur nicht gemerkt, daß schon wieder der 1.April ist. Tomas Menkhaus, Osnabrück

Ich gratuliere Euch zu diesen Kirchen-taz-Seiten! Fast alle Beiträge sind von hervorragender Qualität, informativ, reflektiv oder gute Reportagen/Interviews. Besonders gut fand ich Christian Semlers Beitrag. Ich habe Hochachtung davor, daß jemand, der einst Chefideologe einer dogmatischen ML-Organisation war, zu so selbstkritischer und differenzierter Analyse der „Glaubensfragen“ von uns allen in der Lage ist.

Als seit Jahrzehnten politisch engagierter undogmatischer linker Christ fühle ich mich erstmals von linken Genossen ernsthaft zur Kenntnis genommen (und nicht nur als bürgerliches Aushängeschild gebraucht). Zwar meine ich, daß Ihr nun die politische Wirkung der protestantischen Basis-Bewegung überschätzt, aber allmählich wird sich eine unverkrampfte, realistische Sicht einpendeln.

Was mir noch fehlte: ein Artikel über die ungewöhnliche Rolle protestantischer Promis „wie Gollwitzer, Scharf, Albertz und Dorothee Sölle, die sich nicht nur immer wieder persönlich in politischen Auseinandersetzungen eingesetzt haben, sondern gerade auch auf Kirchentagen einflußreiche Starredner waren bzw. sind.

Mit der Kirchen-taz habt Ihr gezeigt, daß Ihr nicht nur „18 Jahre alt“ und erwachsen, sondern echt reif geworden seid. Bleibt trotzdem bitte gelegentlich so frech, wie ich die taz schätze. Gerhard Breidenstein,

Pfarrer i.R., Wickede

„Die allgemeine Bruderschaft der Menschen hat die allgemeine Vaterschaft Gottes zur Voraussetzung“ (Egon Friedell). Dieses Wort könnte als Motto über dem letzten Drittel des ausgezeichneten Artikels stehen oder ihn abschließen. Wem der Satz zu maskulinistisch ist, möge „Geschwisterschaft“ und „Elternschaft“ lesen.

Schön, daß Sie Ihren (g)eifernden Atheismus einmal etwas zurückhalten. Helmut Geißlinger, Berlin