: „Groteskes Gesetz“
■ Unternehmer lassen Azubis länger schuften / Für über 18jährige heißt das bis zu vier Wochenstunden mehr „Praxis“im Betrieb / Samstag als Zusatztag
Die Unternehmer-Lobby hat sich gegen die Schwächsten durchgesetzt. So werten Praktiker und Juristen die jüngste Änderung im Jugendarbeitsschutzgesetz. Danach wird die Berufsschulzeit von über 18-jährigen Azubis seit März anders berechnet. Galt früher der neunstündige Berufsschultag als voller Arbeitstag, ist jetzt Schluß damit. Anerkannt werden – ohne Pause und Schulweg – nur noch die blanken Unterrichtsminuten. Auch nach einem neunstündigen Unterrichtstag bleiben den volljährigen Azubis daher immer noch eine und eine Viertel Stunde Arbeitszeit, die sie irgendwann nachholen müssen – an einem folgenden Neun-Stunden-Arbeitstag beispielsweise. „Oder an einem Samstag“, schimpfen Betroffene. Auch der zweite Berufsschultag wird nach dem neuen Minuten-Schema angerechnet. Konflikte zwischen Unternehmen und betroffenen Azubis sind deshalb vorprogrammiert.
„Ich beantworte zur Zeit viele Fragen von allen Seiten“, bestätigt Reinhard Böker von der Bremer Handwerkskammer. Grundsätzlich bewertet der Referatsleiter „Berufsbildung“die neue Lage aber als einen Beitrag zur „Flexibilisierung der Wirtschaft“. Davon erhoffe man sich eine größere Bereitschaft von Betrieben, Lehrlinge auszubilden. Er persönlich rate Firmen allerdings eher dazu, die am Berufsschultag aufgelaufene Ar-beitsfehlzeit auf einem gesonderten Arbeitszeitkonto zu notieren – um sie am Samstag abarbeiten zu lassen. „Es nützt ja schließlich niemandem, wenn der Azubi nach der Schule erst gegen halb drei Uhr im Betrieb aufläuft. Bis der dann sein Werkzeug ausgepackt hat...“, sagt Böker. Aber: „Man muß diese Zeit fachlich betreuen. Es geht ja nicht darum, den Azubi irgendwie zu beschäftigen.“Daß die neue Regelung für einzelne auch Härten bringen kann, erwartet er.
Aus der Bremer Handelskammer tönt unterdessen Applaus. Schwierig würde es vielleicht für Jugendliche, die „ein bißchen viel Anspruchsdenken haben“, schätzt Dr. Horst Meyer. „Für Betriebe ist es günstiger geworden.“Nach ersten Firmen-Umfragen der Kammer könnte es rund hundert zusätzliche Ausbildungsplätze geben, wenn Azubis mehr im Betrieb und weniger in der Schule wären. Auch Juristen verdammen die neue Gesetzeslage nicht unbedingt. Zwar öffne sie möglicherweise neue Lücken – aber sie sorge auch für Gleichheit, sagt beispielsweise der Arbeitsrechtler an der Bremer Universität, Prof. Hagen Lichtenberg. „Damit wird der erwachsene Azubi dem gleichaltrigen Hilfsarbeiter gleichgestellt.“Das sei grundsätzlich nicht schlecht. Wo es keinen Tarif gibt, oder wo dieser Lehrlinge nicht einschließt, gelte jetzt das Arbeitszeitgesetz – mit 40 Arbeitsstunden pro Fünf-Tage-Woche und 48 Stunden bei der Sechs-Tage-Woche.
„Grotesk“nennt dagegen der Bremer Ottmar Patzel die Folgen der neuen Gesetzgebung. Bei dem Lehrer an der Berufsbildenden Schule Walsrode beschweren sich Azubis. „Zu Recht“, wie Patzel meint. Über den Sieg der „praktischen Arbeit über die Theorie“ist der Pädagoge, zugleich Prüfungsausschuß-Mitglied der Zentralheizungs- und Lüftungsbauerinnung, entsetzt. „Hier kann sich kein Lehrer raushalten, dem an einer fachlich guten Berufsausbildung liegt“, sagt er. „Die theoretische Ausbildung wird immer wichtiger. Man denke nur an die ganzen elektronischen Neuerungen, die gerade in kleinen Betrieben weniger vermittelt werden.“
Vor allem schwächere Azubis, und die, die nicht in Großstädten wohnen, sieht er jetzt benachteiligt. Wer beispielsweise einen längeren Weg zur Berufsschule hat, werde dafür quasi bestraft; möglicherweise auch die rund 1.400 Azubis, die aus Niedersachsen an den Ausbildungsplatz nach Bremen fahren – oder umgekehrt.
Der volljährige Azubi im ersten Lehrjahr, der zweimal die Woche frühmorgens aufbricht, um in die 70 Kilometer entfernte Berufsschulklasse Patzels und zurück zu fahren, schafft es unter der Woche bis Feierabend kaum in den Betrieb zurück. Auch für das „Nacharbeiten“des Unterrichtsstoffes – und Extra-Unterricht bei schwächeren SchülerInnen – bliebe immer weniger Zeit. „Wenn das die Sprache der Arbeitgeber ist, kann man unorganisiert nicht mehr dagegen an“, folgert Ottmar Patzel. Außerdem wird hier mit zweierlei Maß gemessen“, sagt er. „Schließlich sind die Unternehmen mit der Berechnung von Wegezeiten ja sonst nicht zimperlich. Man stelle sich einmal vor, der Kundendienstmonteur würde zu einem nach Hause kommen, die Reparatur durchführen und die An- und Abfahrt nicht berechnen.“ ede
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