"Liebe taz..." - "Verdikt", betr.: "Niederes Niveau", taz vom 24.6.1197 zum Film "Der Fall Stradivari"

Betrifft: „Niederes Niveau“, taz vom 24.6.1997 zum Film „Der Fall Stradivari

Sehr geehrte Frau Behme,

wer die Arbeit der Mordkommission journalistisch beobachtet, ist nicht ermittelnde Instanz. Der Autor des Films kann nicht für „beweiskräftiges Zeugnis“sorgen, er soll den Zuschauern vermitteln, wie und unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen die Kriminalpolizei auf Beweissuche geht. Die Dokumentation kann nicht den „anschaulichen Beweis“für Schuld oder Unschuld liefern, sie ist einem anderen Ziel verpflichtet, nämlich eine beweiskräftige Anschauung davon zu geben, wie die Beamten ihre Arbeit machen.

Die Innenansicht einer solchen Ermittlungsarbeit ist Thema des Films. Authentizität und Wahrhaftigkeit der dokumentarischen Kamera – das ist mir bewußt – dokumentieren nicht gerichtsfeste Fakten und historische Wahrheiten, sondern widersprüchliche und bruchstückhafte Erkenntnisse, eben Momente im Ermittlungsprozeß. Dazu gehören „angefaßte“Kriminalbeamte ebenso wie Verdächtige, die ihre Unschuld bekräftigen. Wer aus je einzelnen Szenen und Äußerungen den Verdacht ableitet, der Autor des Films verfolge präjudizierende und denunzierende Absichten, will seinen Augen und Ohren nicht trauen, vielleicht weil er nur seinem vorgefaßten Argwohn vertraut. Wenn Sie sich auf „schlichtere Gemüter“berufen, die vor Mißverständnissen zu schützen sind, so erlaube ich mir, Sie selbst nicht für ein solches Gemüt zu halten, und bedaure, daß Sie dessen ungeachtet (stellvertretend?) das Risiko von Unverstand und Mißverständlichkeit gegen den Film wenden und die Absichten des Autors diskreditieren.

Die Geschichte des dokumentarischen Filmens hätte so nicht geschrieben werden können, wenn das mutmaßliche Rezeptions-Vermögen schlichterer Gemüter den Maßstab abgegeben haben würde für die Legitimation des dokumentarischen Blicks. In Ihren Augen sind wir nichts weiter als verantwortungslose Menschen-Vernichter. An diesem Verdikt werden Argumente nichts ändern.

Im Zweifel werden Sie es auch als unglaubwürdig abtun, wenn ich ausdrücklich bedaure, daß der Betroffene und sein Freundeskreis sich durch den Film in so eklatanter Weise beschwert fühlen. Es bleibt aber wahr, daß der Fall längst bundesweit und großflächig mit Gesicht und Namen in der Öffentlichkeit Publizität hatte, bevor Radio Bremen die Dokumentation ausstrahlte, eine Dokumentation , die nicht unterschlägt, daß der Verdächtige aus der Haft entlassen wurde, im Film selbst seine Unschuld erklärt und nun ein Richter über die Anklageschrift zu entscheiden hat. Im übrigen war die Bereitschaft zu Interviews vor der Kamera, im Hörfunkstudio und in der Presse ein deutlicher Beweis, daß Vasile D. selbst die Medien nutzen wollte und Öffentlichkeit gesucht hat.

Michael Geyer, Chefredaktion Radio Bremen Fernsehen