: Spaziergänge in der Stadt der Künstler
Spielt Himmel und Hölle mit dem Publikum: Die von Harald Szeemann kuratierte Kunstbiennale in Lyon. Auf dem frisch umgewidmeten Gelände eines ehemaligen Viehmarkts kommt so gut wie jeder auf seine Kosten ■ Von Hans von der Brelie
Ätsch! – eine lange Nase hat er ihnen gedreht, der Harald Szeemann. Wollte sich von Thierry & Thierry nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Auch nicht für 17,7 Millionen französische Francs. Das Publikum liebt den Bubenstreich des Mittsechzigers: so eine schaurig-schöne Biennale gab es noch nie in Lyon. Blutbemalte Ostereier von Henry Ughetto, ölbegossene Steinquader von Joseph Beuys und eine fliegende Dampfwalze von Chris Burden. Hereinspaziert! Hier kommt jeder auf seine Kosten.
Doch von vorne: Thierry Raspail und Thierry Prat sind Direktoren, künstlerische. Und seit 1991 die organisatorischen Kulissenschieber der BAC, der Kunstbiennale Lyon; neben der Biennale in Venedig und der documenta in Kassel das dritte internationale Stelldichein in Europa. Doch Thierry & Thierry haben ein Auge nicht nur auf die Kunst geworfen. Die Philosophie hat es ihnen angetan. In einem zweiseitigen Text bringen sie 27 Denker unter. Zum Thema „L'autre“, dem Thema der vierten BAC.
„L'autre“ – die/der/das andere, die Denkfigur entstammt dem Neuphilosophischen. Unter diesem Motto hätten Thierry & Thierry ihre BAC auch ganz gerne verwirklicht gesehen. Doch die beiden Thierrys haben die Rechnung ohne den Kurator gemacht. „Ich bin es gewohnt, meine Ausstellungen selber zu taufen.“ Dixit Harald Szeemann. Szeemann hat einen großen Bart; schwer zu erkennen, ob er lacht.
Die Ausstellungshalle „Tony Garnier“ liegt im ehemaligen Schlachthausviertel der Millionenstadt Lyon. Der Architekt Garnier vollendete die Stahlkonstruktion 1928: 80 Meter breit, 210 Meter lang, ein Viehmarkt im Eiffelturm- Stil. Den Viehmarkt gibt es nicht mehr. Geblieben sind 17.000 Quadratmeter Fläche. „An einem Ort wie in dieser Halle“, sagt Szeemann, „da muß Spektakel gemacht werden, da muß sich was rühren.“
Zum Beispiel zweimal 12 Tonnen Stahl, 3 Meter hoch, 10 Meter lang; – und nur 5 Zentimeter breit. Schief wie der Turm von Pisa eröffnet die stählerne Riesenklammer dem Besucher den Weg ins Innere des Lyoneser Ausstellungsbauches. „Olson“, die monumentale Stahlskulptur von Richard Serra, rührt sich natürlich nicht vom Fleck; aber sie droht damit. Sechs Monate lang war die Halle Szeemanns „Geliebte“, wie er sagt. In dem enormen Raum hat er ein Dorf aus weißen Würfeln bauen lassen: Jeder Künstler hat sein Haus, seine Ecke, seinen Platz. Szeemann wollte keine pädagogische Ausstellung mit aufgezwungener Gehrichtung. Sein radikalpluralistisches Gegenkonzept: In der Stadt der Künstler unternimmt der Besucher seine eigenen Spaziergänge. Von einem Künstler- Tipi zur nächsten Ausstellungs- Plaza.
Plastiken des 18. Jahrhunderts, Charakterköpfe Franz Xaver Messerschmidts, sind neben Porträts der 80er und 90er Jahre von Gary Hill, Franz Gertsch und Yan Pei- Ming zu finden; große Namen wie Bacon, Serra oder Beuys neben regionalen Berühmtheiten wie Facteur Cheval oder Henry Ughetto; Obskures von Emery Blagdon und Emma Kunz neben der Konzeptualistin Hanne Darboven; die Aktionskünstler der 60er Jahre, Günter Brus und Hermann Nitsch, neben den Videobildnern Zhang Peili oder Pipilotti Rist.
Die vierte BAC – ein Jahrmarkt der Beliebigkeit? Nein! Die Ausstellungshalle ist klar gegliedert. Auf der Mittelachse reihen sich die Spiel- und Spaßobjekte: der stählerne Eingangs-Serra; eine in onanistischem Zirkelschluß endlos um sich selbst kreisende Rohrpostanlage von Serge Spitzer und – als Wendepunkt des flanierenden Besuchers – Chris Burdens „Flying Steam Roller“ (1996). Meint doch der Kurator: „Eine fliegende Dampfwalze, 15 Tonnen schwer, das bekommt man immerhin nicht jeden Tag zu Gesicht!“
Serra – Spitzer – Burden: formal haben sie nichts miteinander zu tun; inhaltlich schon. Die Meisterung von Gewicht, die Überwindung der Schwerkraft. Ist dies eine mögliche Lesart der vierten BAC à la Szeemann? Die Aufwertung von Inhalten, wenn auch in marktschreierischem Ambiente? – Und wenn dem so ist: welchen Text hat Szeemann aus den Elementen der Künstler-Kollegen zusammengesetzt?
Es scheint, Szeemann hat in Lyon ein Himmel-und-Hölle-Spiel entworfen. Zur Linken des schwerkraftverneinenden Mittelboulevards hat Szeemann die realistischen Verliese des Schreckens installiert; zur Rechten finden sich die mythologischen Wunder- Werke des idyllischen Wahns. Die vierte BAC ist nichts weniger als Szeemanns Jüngstes Gericht.
Auf der einen Seite schockiert der Nachbau des Folterbettes aus Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ (Jean Clair). Auf der anderen Seite darf man auf Emery Blagdons drahtgeflochtene „Healing Machines“ hoffen. Einerseits beunruhigen Katharina Fritschs sechzehn Monsterratten, andererseits gewinnt der Besucher die verlorene Distanz beim Blick auf die labyrinthischen Wege einer Ameise zurück, die Yukinori Yamagi detailliert nachgezeichnet hat. Und der grauenhafte Anblick der gebrochenen Wirbelsäule zweier Heizkörper einerseits von Nicolas Hérubel („Construire un pont, même la nuit“, 1994) findet sein Gegenstück in der optimistischen Monumentalinstallation Chen Zhens andererseits: um drei „Runde Tische“ (1997) sind Stühle aus Asien, Europa und Amerika angeordnet. Todernst sind einerseits Vincent Corpets Kopulationszeichnungen zu de Sades „120 Tagen von Sodom“ (1994), andererseits mögen man und frau lebenslustig „uno momento / the theatre in my dick / a lock to the physical / ephemeral“ (1996) von Jason Rhoades erkunden: einen raumgroßen, begehbaren Riesenschwanz aus vielen bunten Lämpchen, Plastikmöbeln und Elektroschrott.
Es bleibt dem Besucher überlassen, ob er sich dem Zickzackkurs himmelhöllischer Wechselbäder aussetzen will, ob er sich – gegen den Uhrzeigersinn – Schritt für Schritt aus dem Paradies entfernt, in Richtung Fegefeuer, oder ob er sich – der Bewegung des Uhrzeigers folgend – aufsteigt aus dem Blutsumpf hin zu einem doch eher humanistischen, spielerischen Menschenbild.
Bis 24. September.
Halle Tony Garnier in Lyon.
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