Warten auf Bata

■ Polygam hören, monogam spielen: „Ein Herz für Schlager“– spaßige Schlagernacht in düsterer Kulisse

Die Deutschen ziehen sich seit jeher beschissen an; weil sie's nicht anders wissen. Doch jetzt beginnen sie, sich aus voller Absicht daneben zu kleiden. Zum Beispiel der lange Dürre, der sich am Sonnabend beim Festival „Ein Herz für Schlager“im Pier 2 unters Volk gemischt hat. Ist seine geblümte Bluse Spaß oder voller Ernst? Oder was meint der schnicke Typ mit seiner schwarz-weiß gefleckten Fellhose? Hat Versehen oder Kalkül diesem himmelschreienden Hellblau zur erbarmenswerten Existenz verholfen? Die Semantik der 50er/60er/70er Jahre-Revival-Generation gibt Rätsel auf – und das buchstäblich gleich tausendfach.

Hiphop, Techno, und Hardcore fügen sich aufs Feinste soziologischen Erklärungsbestrebungen. Doch was an diesem Wochenende im Pier 2 zu sehen war, macht fassungslos: Wie konnte es geschehen, daß die geballte Lebensbejahung im Mitsingfieber, die beschwingte Geschmacklosigkeit der schlimmsten Feindbilder unserer Jugend, die Inkarnation von kleinbürgerlicher Anpassung und Verlogenheit zum Feiern einladen?

Die vier jungen Männer von „Lars Vegas und die Heiterkeit“– Bremens Lokalmatadoren in Sachen Schlager und neben „Erika Rehbein und das Schlagerkarussell“sowie Bata Illic für das Live-Geschehen der Schlagernacht verantwortlich – erklärten uns die geschichtlichen Hintergründe des ungetrübten Frohsinns am Fallbeispiel Bremen.

Mutmaßlich fand die erste Erscheinung des Schlagers als Bad-Taste-Variante im Magazinkeller des Schlachthofs statt: Ratten, Springerstiefel – warum dann nicht gleich Schlager. Bis ihn das Junge-Unions-Spektrum der Discothek Scala – dialektischer geht's nicht – für seine Fun-Zwecke vereinnahmte. Von diesen gegensätzlichen Polen aus infiltrierte der Schlager die unterschiedlichsten Szenen. Unter seinen Jüngern sind Techno-Freaks nicht weniger als der klassische Genesis-Typus oder verschrobene Menschen aus der Indie-Subkultur. Ein grenzüberschreitendes, völker- (oder zumindest klassen-) verbindendes Element ist ihm also nicht abzusprechen. Der Schlagzeuger von Lars Vegas zum Beispiel steht ansonsten auf Jazz und Henry Rollins. Den Instrumentalisten von Erika Rehbeins Schlagerkarussell kreiden die Vegase allerdings schon an, daß sie nebenbei noch in stilistisch ganz anderen Bands spielen. Möglichst polygam hören, aber monogam spielen, so lautet Lars Vegas Ehrenkodex.

Die Schlagerszene ist in viele Facetten aufgesplittert, erklären die Vegase. Grundsätzlich sei zu unterscheiden zwischen Schlagerverulkern wie Dieter Thomas Kuhn mit seinen verdoppelten Tempi, dem es – so Vegas Vermutung – primär um Kohle geht, und Schlagerverehrern. Deren Prototyp sei Gildo Horn, der lange vor der ganz anderen deutschen Welle dem Schlager verfiel und eher zufällig vom Erfolg überrollt wurde. Außerdem nisten sich immer mehr Ab-stauber in die Szene ein, denen es um die schnelle Mark geht. Zu erkennen sind sie an einer einseitigen Konzentration auf Megahits. Lars Vegas dagegen fördert auch unbekannte Juwele zutage.

Aber nicht nur die Schlagerszene ist vielschichtig, im deutschen Schlager selbst entdecken die Vegase einen großen Variantenreichtum, der fast alles vom Rock bis zum Latin mütterlich umarmt. Lars Vegas schlagen sich der Seite der Schlagerliebhaber zu. Das war nicht immer so. Als Frühteenies haßten sie Schlager. In der nächsten Entwicklungsstufe entdeckten sie den Schlager als Ulk. Jetzt verehren sie ihn mit Haut und Haar, selbst mit blondem Haar, sogar in Verbindung mit 17 Jahr'. „Es ist eine höhere Form von Ehrlichkeit, wenn Udo Jürgens von seiner späteren Vorliebe für junge Mädchen wußte und davon sang“, meint der Sänger Lars „Vegas“Münkewarf und grinst hintersinnig. Und sein Kollege: „Wenn etwas als Kitsch in Verruf gerät, so heißt das nur, daß seine wahren Qualitäten noch nicht entdeckt wurden.“

Diese Qualitäten konnte man im Pier 2 in der Tat entdecken: Schlager läßt auch vorsichtige Menschen befreit auftanzen, bringt die blasse Blonde hinten links zum Drehen einer skurrilen Pirouette, ermutigt Rollstühle zum Wirbeln. Er verstrahlt Optimismus, wie ihn sich keine andere Musikkultur zu zeigen traute. War seine Eierkuchenfreundlichkeit einst ein verordneter Notbehelf armer, abgewrackter, lebensmüder Seelen, so ist sie jetzt das Bekenntnis problemmüder Treibaufs. Roy Black nicht mehr um 17 Uhr im Seniorenstift, sondern Bata Illic um Mitternacht vor Teenies und Twens. Was sagt er zu seinen neuen Auftrittszeiten? Wir warteten lange, wir hätten es gerne gewußt, wir waren müde und mußten zu Bett. Barbara Kern