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„So tanzt kein Argentinier“

■ Immer mehr tanzen Standard und Tango / Horst Manske weiß, warum

ie alternative Tanzszene in Bremen erlebt seit Beginn der 90er Jahre einen regelrechten Boom. Statt die Aufmüpfigkeit zu kultivieren – wie die Punk- und Hardcore-Szene – oder zu Hunderttausenden ins Leere zu raven – wie die Kids der Techno-Generation – gibt sich der standard-tanzende akademische Mittelstand scheinbar konservativ: Sie und er nehmen wieder Haltung an und spielen für mindestens drei Tänze die alten Rollen neu. Auch Horst Manske findet Gefallen daran. Er ist promovierter Sozialwissenschaftler. Seit zehn Jahren bietet er nebenbei Kurse jeden Niveaus im Standardtanzen an. Er kennt sich bestens aus in dieser Grauzone der Semiprofessionalität. Er hat deshalb darum gebeten, seinen Namen geändert zu veröffentlichen. Die taz entsprach diesem Wunsch, und so gab er sein Insiderwissen weiter.

taz: Welche Motive bewegen die Leute, Standard und Tango zu lernen und tanzen zu gehen?

Horst Manske: Es ist das nochmalige Ausprobieren des Geschlechterverhältnisses. Es wird zwar offiziell nicht so gesagt, doch diese konventionellen Verhaltensweisen beim Paartanz sind für viele verwirrend und spannend zugleich. Das Reglement des männlichen Führens und des weiblichen Geführtwerdens, an das sich die Tanzenden halten müssen, bringt doch einige zunächst ganz schön ins Schwitzen. Außerdem ist die alternative Tanzszene auch eine Art inoffizielle Partnerbörse.

Aber es ist doch merkwürdig, daß nach dem Feminismus jetzt wieder auch im Tanz konventionelle Geschlechterrollen aufleben. Gibt es hier einen Backlash?

Nein, überhaupt nicht. Das Hinterfragen des traditionellen Geschlechterverhältnisses hat nicht viel mehr bewirkt, als daß wir alles ganz anders machen wollen. Aber eine alle zufriedenstellende Alternative gibt es bisher nicht. Das ist natürlich alles andere als hilfreich im Umgang miteinander. Ich denke, man kann ohne einen gewissen Background von Verhaltensorientierungen keinen neuen Weg finden, wie die Geschlechter miteinander umgehen sollen. Beim Paartanzen können sie dagegen ein Arrangement finden. Es ist auch spannend, mit den alten Rollen spielerisch umzugehen und sie beim Tanzen auszuprobieren.

Hat sich die alternative Tanzszene sehr verändert? Und wenn ja, wie?

Sie hat sich verändert. Früher war es das Flair, etwas besonderes zu sein. Der Kreis war kleiner, es war alles familiärer. Die Altersstruktur war damals auch etwas homogener. Früher waren die Leute größtenteils noch Studenten oder junge Akademiker. Mittlerweile melden sich immer mehr Ehepaare für Tanzkurse an – auch ältere. Das ist aber eine Bereicherung. Außerdem spalten sich kleine Unterszenen ab, die in verschiedenen Tanzschulen gelernt haben.

Wie charakterisieren Sie den Unterschied zwischen argentinischem Tango und Standard?

Darüber wird häufig diskutiert. Es sind wirklich zwei sehr unterschiedliche Szenen. Das Standardtanzen hat mehr mit Lebenslust zu tun. Die Tänze sind extrovertierter. Der Tango dagegen ist stärker introvertiert und stilisiert. Beim Tango kann auch mehr Intimität und Nähe entstehen als beim Standard. Der Tango, der jedoch hier gelernt wird, ist Auftrittstango, Bühnentango. So kompliziert, wie hier Tango getanzt wird, würde kein Argentinier tanzen. Ich habe oft den Eindruck, daß es beim hiesigen Tango ums Figurenabdreschen und zu sehr um die Tanztechnik allein geht.

Wenn man sich in der Tango-szene umhört, wird oft gesagt, daß Tango nicht primär ein Ausdruck von Erotik, sondern von Melancholie sei. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja. Aber Melancholie und Erotik sind keine Gegensätze. Wenn man sich allein die Tangotexte anhört, handeln sie zu 95 Prozent über Liebe und zu 90 Prozent über versagte Liebe. Das gehört einfach zum Tango dazu. Man hat einfach die Möglichkeit, sehr viel Zärtlichkeit und Ruhe in diesen Tanz zu legen. Beim Standardtanzen kann man sich eher austoben. Man kann dabei über die Tanzfläche fetzen, was viele machen und einem dann auch auf die Füße treten. Das ist der Nachteil beim Standard.

Gibt es analog zur Unterschiedlichkeit der Tänze auch eine zwischen den Leuten?

Die Standardszene ist jugendlicher und frecher, während die Tangoszene gesetzter und förmlicher ist. Was da manchmal beim Tango an Abendgarderobe aufgefahren wird, ist beim Standard unvorstellbar. Umgekehrt ist es beim Tango undenkbar, daß jemand in Lederhosen tanzt, wie es beim Standard manchmal passiert.

Fragen: Christoph Gawin

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