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■ Nebensachen aus IstanbulGrenzenlos frei im Ferien-Bruchbudenparadies

Die junge Frau hatte eine anstrengende Busfahrt hinter sich. Dann hatte ein Auto sie mitgenommen. Das beschwerliche Stück des Schotterweges hatte sie mitsamt Gepäck zu Fuß zurücklegen müssen. Jetzt, am Ziel ihrer Urlaubsträume angekommen, stand sie erwartungsvoll auf dem einzigen, mit einigen alten Tischen und Stühlen ausgestatteten Platz der Pension, der Schatten spendete. Es war mittags, und ein paar verschlafene Gesichter blickten sie neugierig an, um schließlich weiter zu frühstücken. „Ist Herr M. da“ fragte die Frau. Herr M. gab seltsame Geräusche von sich, die offensichtlich ausdrücken sollten, daß er zugegen sei. „Mein Name ist Zeynep. Ein Freund von mir hat diese Pension empfohlen. Ich habe ein Zimmer reserviert.“ Die erwartungsvolle Rede wurde mit Schweigen quittiert. Der armen Frau blieb nichts anders übrig, als sich abseits der Frühstücksrunde auf einen Stuhl zu setzen und zu warten.

Nach einer halben Stunde nahm sich M. ihrer an: „Wenn du Tee trinken willst, mußt du ihn dir schon holen“, grummelte er und verwies auf die Küchenbaracke. Vorwurfsvoll erklärte er: „Jetzt muß ich auch noch ein Bett beziehen und dir das Zimmer zeigen.“ Mit Zimmer meint er eine der sieben Bruchbuden, in denen gerade zwei Betten Platz haben. Die Frau bekam tatsächlich ein Zimmer. Wenige Stunden später wurde sie sogar in die Gästefamilie aufgenommen. Dies merkt man daran, daß M. einen mit seinem dicken Gartenschlauch von Kopf bis Fuß naßspritzt.

M.s Ferienparadies in einem kleinen Dorf am Mittelmeer ist wahrscheinlich die am schlechtesten geführte Pension der Türkei. Nichtsdestotrotz ist es ein Privileg, dort aufgenommen zu werden. In Istanbul hat mich ein prominenter Regisseur neidisch angeglotzt, als ich ihm erzählte, daß ich Stammgast von M. bin. Eine Freundin, die heute zu den lieben Gästen von M. gehört, wurde zunächst abgewiesen. Mit der Drohung: „Ich weiß nicht, wo du Arsch heute nacht schläfst, ich schlafe hier“ ergatterte sie ein Zimmer. M. war beeindruckt.

Einmal kam ein Paar mit Geländewagen. Sie erzählten von ihren Referenzen, doch mit einem rüden „keine Zimmer frei“ wimmelte M. sie ab. Und das obwohl wir lauthals: „M. Nimm sie auf! Zimmer Nummer 3, 4 und 5 sind doch frei!“ schrien. „Widerliche Yuppies“, kommentierte er. Dabei hat M. den französischen Manager, der in schwarzer Limousine kam, aufgenommen. Auch er ist heute Stammgast. Die Kriterien von M. sind mir schleierhaft. Istanbuler Linke, Kapitalisten, Poeten, hochbezahlte Werbe- profis, Professoren. Es ist sogar vorgekommen, daß M. eine deutsche Lehrerin aufgenommen hat.

Niemand kennt das Geheimnis der Preise. Jeder zahlt nach seinen Verhältnissen – oder auch nicht. Des öfteren muß man auch den Faulpelz M., die Autorität der Kommune, bedienen.

Doch warum die Pilgerreise zu M.? Warum bleiben hier Leute, die sonst in Fünfsternehotels ihren Urlaub verbringen? Zum einen ist es der Drang nach hemmungslos gelebter Freiheit. Kein Buffet kann die Unabhängigkeit in der Bruchbuden-Küche ersetzen. Zum anderen ist es die von M. vermittelte Wahrheit, daß letztlich die Freiheit höchst relativ ist. (Wenn kein Kaffee gekocht wird, gibt es keinen).

Am Abend nach 22 Uhr holt M. zum endgültigen Schlag aus. Ironisch gibt er sich selbst und die Gäste der Lächerlichkeit preis. Die Schale von einem Dutzend Menschen wird abgezogen. Die Schwächen der Seele werden mit analytischer Präzision der Kommune preisgegeben. Aus harten Männern werden jämmerliche Schwächlinge, aus sensiblen Frauen Ungeheuer. Weder Geld noch sozialer Status vermag vor M. zu schützen. Unter dem Sternenhimmel wird bis in die Morgenstunden gelacht. Ist sie nicht lachhaft – die nackte menschliche Kreatur? Ömer Erzeren

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