: Nie wieder deutsche Ganzheit
■ Das Institut für Sozialforschung begleitet das Sommertheater
taz: Mit der Vortragsreihe „Reste des Ganzen. Kunst und Kultur der Gegenwart“begleitet das Hamburger Institut für Sozialforschung das Internationale Sommertheater Festival. Weshalb?
Ulrich Bielefeld: Man kann seit einiger Zeit ein neues Interesse am kulturellen Diskurs feststellen, daran, sich nicht nur Tanz oder Schauspiel anzusehen, sondern auch zu erörtern. Sehen kann man dies z. B. auf der documenta: Die Vorträge der „100 Gäste“haben einen enormen Zulauf.
Was könnte diese Vortragslust beim Sommertheater ausmachen?
Die Kompagnien und Gruppen kommen aus allen möglichen Erdteilen. Häufig stehen ganz unterschiedliche Wurzeln, Traditionen und Rituale in dem Bewegungsvokabular im Vordergrund. In den Darbietungen prallen mitunter Hoch- und Subkultur aufeinander. Und plötzlich ist der Besucher gar nicht mehr weit weg von Fundamentalismen, die uns schnell befremden und gleichzeitig faszinieren, weil man immer auch nach Ursprünglichem in dem Fremden sucht, nach etwas Unberührtem und vor allem nach etwas Ganzem. Gerade in Deutschland gibt es diese Sehnsucht und zugleich mehr und mehr die Gewißheit, daß man bei seiner Suche nach der Ganzheit nie wieder fündig werden wird. Es gibt keine Autorität mehr, die beim Zusammensetzen der Splitter hilft, keine Autorität mehr von Schrift und Stimme. Etwas völlig Individuelles und gleichzeitig Allgemeines wie der Körper scheint wenigstens im Theater an diese Stelle getreten zu sein.
Haben Sie die Referenten auch nach ihrem „Unterhaltungswert“zusammengestellt?
Nicht unbedingt. Bei dem Philosophen und Filmtheoretiker Slavoij Zizek beispielsweise, weiß ich, daß seine Vorträge eine sehr spannende Angelegenheit sind. Das mag auch an seinen doch provokanten Thesen zum Multikulturalismus als Ideologie des globalen Kapitalismus liegen. Zizek ist sein radikalster Kritiker und Verfechter eines „neuen Pathos des Eigenen“, bezogen auf das europäische Projekt. Wie er mit kulturellen Differenzen umgeht, wird er in seinem Vortrag „Against Multiculturalism“vorstellen. André Lepecki, den Essayisten und Tanzdramaturgen aus New York, kenne ich hingegen nicht persönlich. Er ist jemand, der vermutlich am visionärsten mit dem Thema umgeht. Dirk Baeker, einer der neuen ironischen Soziologen, wird dann wieder globalere Kreise ziehen und Antike, Moderne und Postmoderne als drei Kulturmodelle skizzieren.
Was soll das Publikum nach einem Vortrag mit nach Hause nehmen?
Wenn die Leute einen Vortrag hören, dann in eine Vorstellung gehen, später beim Wein darüber reden, würde mir das schon reichen. Naja, das heißt, wenn sie die Blicke auf etwas verändern würden, wäre das auch sehr schön. Ein guter Vortrag kann zumindest selbst eine Erfahrung sein.
Fragen: Birgit Glombitza
Kampnagel, Foyer 1, jeweils 19 Uhr, Eintritt frei. Heute: Hans Thies Lehmann „Zeitkulturen – Zeitskulpturen“; 21.8.: Slavoij Zizek „Against Multiculturalism“; 22.8.: Dirk Baeker „Kultur als Gedächtnis“; 27.8.: André Lepecki „The Body in Difference“
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