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Fremde werden gemacht

Nicht Fremdheit macht aggressiv, sondern Aggression macht die anderen fremd. Fremdheit ist das Bemühen, sich den anderen vom Leib zu halten  ■ Von Birgit Rommelspacher

Das Fremde macht Angst und verunsichert. Darüber scheinen sich alle einig, wenn es darum geht, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu erklären. Im direkten Kontakt wirken allerdings oft gerade diejenigen ziemlich sicher, die direkt rassistisch sind; wohingegen diejenigen, die sich auch mit der Tatsache von Rassismus und Diskriminierung in unserer Gesellschaft auseinandersetzen, sehr viel eher verunsichert sind. Sie haben meist selbst das Gefühl, nun gar nicht mehr zu wissen, wie sie sich verhalten sollen. Tatsächlich wurde diese Verunsicherung inzwischen vor allem in der US-amerikanischen psychologischen Forschung beobachtet und untersucht, und zwar nicht nur von Mehrheitsangehörigen in Bezug zu ethnischen Minderheiten, sondern auch in der Beziehung von nichtbehinderten zu behinderten Menschen.

Diese sogenannte „Interaktionsspannung“ zeigt sich z.B. darin, daß die Konaktsequenzen zwischen Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Herkunft in der Regel kürzer sind als zwischen Gesprächspartnern mit gleichem kulturellem Hintergrund; oder darin, daß die Mehrheitsangehörigen im Gespräch eine abwehrende, unoffene Körperhaltung zeigen und den Blickkontakt meiden beziehungsweise sich darum bemühen, einer Begegnung ganz aus dem Weg zu gehen.

Diese Spannung basiert psychologisch gesehen auf unbewußten Konflikten, die aus einem Widerstreit unterschiedlicher psychischer Tendenzen herrühren. In der Beziehung zu behinderten Menschen etwa richten die nichtbehinderten ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Behinderung, wollen aber zugleich, daß das nicht bemerkt wird und versuchen so zu tun, als ob nichts wäre. Und je mehr sie sich um Ungezwungenheit bemühen, desto verkrampfter werden sie. Der Konflikt besteht hier also zwischen der sogenannten „Irrelevanzregel“ und der Fixierung auf das Stigma. Dasselbe gilt für die Beziehung zu ethnischen Minderheiten: Hier resultiert die Spannung aus dem Widerspruch zwischen den diskriminierenden Vorstellungen und Gefühlen, die die Mehrheitsangehörigen mit ihnen verknüpfen und dem Bemühen, unvoreingenommen und tolerant zu sein, d.h. genau diese Entwertungsphantasien nicht wahrhaben zu wollen. Auch hier führt das Bemühen um Toleranz erst recht ihr Scheitern vor.

Der Kampf gegen die Entwertungstendenzen zeigt sich beispielsweise auch in dem Versuch, negative Assoziationen durch positive zu ersetzen, etwa in Form einer Idealisierung von Menschen dunkler Hautfarbe als besonders natürlich, musikalisch etc., was oft mit „positivem Rassismus“ bezeichnet wird. Aber auch diese betonte „Wertschätzung“ signalisiert den Verlust von Unbefangenheit. Die Verunsicherung führt jedoch nicht nur dazu, diese Kontakte zu meiden, sondern auch das Anderssein überhaupt zu tabuisieren, selbst wenn der Kontakt sehr intensiv ist. So berichteten einige befragte Frauen in einer Untersuchung zur Beziehung zwischen deutschen und jüdischen Frauen, daß ihre beste Freundin Jüdin war, und daß sie sich über alles unterhalten hätten – nur darüber nicht.

Dann ist es jedoch kein Wunder, wenn die „anderen“ fremd bleiben. Insofern muß „Fremdheit“ als Resultat eines Bemühens verstanden werden, sich die anderen „vom Leib zu halten“. Dies zeigt sich in einer weitgehenden gesellschaftlichen Segregation. Bezüglich behinderter Menschen wird diese Segregation oft sehr bewußt und öffentlich betrieben, weniger bewußt ist in der Regel, daß die meisten Deutschen in ihrer Freizeit, an der Arbeitsstelle, aber auch im Bekanntenkreis „unter sich“ bleiben. So stellte Dollase in einer Untersuchung fest, daß in 64 Hauptschulklassen nur ein deutscher und ein türkischer Junge einen Freund aus der jeweils anderen Gruppe wählte. Normal hingegen ist, wie Dollase schreibt, eine völlige Trennung von „In“- und „Aus“ländern auf der Ebene der Freundschaften.

Fremdheit läßt sich also nicht auf ein Problem des Nichtkennens reduzieren. Auch prinzipiell dürfte es in unserer Informationsgesellschaft nicht allzu schwer sein, sich mit dem Fremden vertraut zu machen – insbesondere, wenn es sich um „Fremde“ handelt, die seit Generationen hier leben. Aber auch der seit einiger Zeit als extrem fremd apostrophierte Islam ist eine Kultur, mit der sich das christliche Abendland seit Jahrhunderten „auseinandersetzt“.

Was ist das Interesse an der Aufrechterhaltung von „Fremdheit“? Warum lernen Kinder in der Schule so gut wie nichts über Menschen anderer Kulturkreise, selbst wenn sie in derselben Klasse sitzen?

Womit sich die Menschen vertraut machen und was sie als fremd von sich weisen, hat nach psychoanalytischer Auffassung sehr viel mit eigenen Konflikten und emotionalen Bedürfnissen zu tun. Das Fremde ist, so die Grundthese Freuds, eine Konstruktion des Subjekts, da erst die negativen emotionalen Besetzungen das Fremde zum Fremden und damit bedrohlich und unheimlich machen. Das „Unheimliche“ aber stammt nach Freud vom „Heimeligen“ ab, vom Vertrauten, das, aus welchen Gründen auch immer, „heimlich“ werden mußte, d.h. verdrängt wurde. Und im Fremden begegnen dem Subjekt diese Anteile, nun allerdings angstbesetzt und unheimlich. Die positiven Anteile aber bleiben beim Selbst und definieren das Eigene. In diesem Sinn kehrt Freud das übliche Argumentationsmuster um. Nicht Fremdheit macht aggressiv, sondern die Aggressionen machen die anderen fremd.

Die Frage jedoch ist, gegen wen richten sich die Aggressionen? So ist es kein Zufall, daß die aus einer rigiden Selbstdisziplinierung resultierenden Autoaggressionen vielfach auf Flüchtlinge und Asylbewerber gerichtet werden, die anscheinend bequem, träge und sorglos in den Tag hineinleben, während „unsereins“ sich abrackert. Hier werden eigene Versorgungs- und Verwöhnungswünsche abgespalten und aggressiv gegen die anderen gewendet nach dem Motto: „Uns ist auch nichts geschenkt worden.“ Die Projektion von solchen Schlaraffenlandphantasien ausgerechnet auf diejenigen, denen meist alles fehlt, läßt sich nur dadurch erklären, daß sich darin ein gesellschaftlicher Konsens ausdrückt, nach dem ihnen im Grunde genommen gar nichts zusteht, zumindest nicht in dieser Gesellschaft. So wird die eigene Bedeutung und Zugehörigkeit sich selbst und den anderen gegenüber versichert.

In der Konstruktion von Fremdheit werden also die Grenzlinien gezogen, wer zu dieser Gesellschaft „gehört und wer nicht“. Dabei spielen die tradierten Feindbilder eine zentrale Rolle. In ihnen verdichtet sich die Geschichte und drücken sich Machtbeziehungen aus. So ist in den Bildern von Menschen mit dunkler Hautfarbe die Geschichte des Kolonialismus eingeschrieben; im Bild vom „fanatischen“ und „gefährlichen“ Moslem der jahrhundertelange Kampf um politische und kulturelle Hegemonie zwischen Morgen- und Abendland. Im Falle von Jüdinnen und Juden wird die Geschichtsmächtigkeit der Bilder für die Deutschen besonders deutlich – denn in der Beziehung zu ihnen scheint die Geschichte unmittelbar gegenwärtig zu werden. „Ich fühle mich nie so deutsch, wie wenn ich einem Juden begegne“ so formulierte dies eine der von uns Befragten.

Diese Zugehörigkeit zu den Deutschen, also zur Tätergesellschaft, resultiert aus der psychologischen Nähe zu den Eltern und Großeltern. Selbst wenn die Nachkommen sich mit ihnen kritisch auseinandergesetzt haben, so sind sie ihnen doch psychisch verbunden und nehmen Partei für sie. So berichten fast alle der von uns Interviewten unaufgefordert, wie sehr sie ihre Eltern und Großeltern auch bei aller Distanz und Kritik verstehen könnten, wie es ihnen im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit gegangen sein muß. Aber auf die Frage, ob sie auch nachvollziehen könnten, wie es Jüdinnen und Juden heute in Deutschland geht, fiel ihnen nichts ein. Es ging ihnen jede soziale Phantasie aus. Sie konnten es sich nicht vorstellen.

Wissen, Interesse und Mitgefühl sind also nicht zufällig verteilt, vielmehr ziehen sie die Grenzen zwischen denen, die als fremd zu gelten haben und denen, die „dazu“gehören. Damit stellt sich jede/r selbst auf eine bestimmte Seite. Diese psychische Verortung hat natürlich seine guten Gründe, da Zugehörigkeit mit Privilegierung verknüpft ist. Worin aber bestehen die Privilegien der Mehrheitsangehörigen? In allererster Linie in ihrer Nichtdiskriminierung. Also im Privileg, nicht aufzufallen, z.B. als einzige Schwarze in einem von Weißen dominierten Straßenbild. Also in der Zugehörigkeit und in der Annahme, eine relativ faire Chance zu haben, nach seinen persönlichen Qualitäten beurteilt zu werden und nicht nach der Gruppenzugehörigkeit. In diesem Sinn sind natürlich auch viele Mehrheitsangehörige diskriminiert. Insbesondere die Frauen. Diskriminierung wie Privilegierung ist jedoch nie absolut, sondern die verschiedenen Privilegierungs- bzw. Diskriminierungssysteme sind ineinander verschachtelt. Und viel politischer Kampf geht darum, welche Form der Diskriminierung nun wesentlicher sei als die andere; oder wie es früher hieß, was der „Hauptwiderspruch“ sei und was die „Neben“widersprüche. Dieser Kampf um eine Hierarchisierung der Diskriminierung scheint mir jedoch wenig produktiv, viel wichtiger ist es, die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Diskriminierungsformen zu untersuchen.

Der Kampf um Zugehörigkeit drückt sich vor allem auch im Kampf um die Definition von Normalität aus und damit um das „kulturelle Kapital“ (Bordieu), d.h. um die Bedeutung von Sprache, Bildung, um Fragen der alltäglichen Lebensgestaltung und Prestigemerkmale, die in unserer Gesellschaft immer auch mit der Verteilung von ökonomischem Kapital einhergehen. Es gibt so gut wie keine ethnische Differenz, die nicht auch mit dem Zugang zu diesen allgemeinen Ressourcen verknüpft wäre. Das bedeutet dann auch, daß jedes Sichtbarwerden von Andersartigkeit gleich als Bedrohung empfunden wird. Diese Angst um den Verlust der kulturellen Dominanz ist im Prinzip maßlos, so daß jede noch so harmlose Äußerung von „Fremdheit“ zum Anlaß heftigster Verfolgungsphantasien werden kann. Danach scheint schon eine einzige Moschee unter Hunderten von Kirchen bereits das gesamte christliche Abendland zu gefährden. In diesen „Ängsten“ und „Bedrohungsphantasien“ artikuliert sich der eigene Anspruch nach vollständiger Bestimmung der Wirklichkeit, und dieser ist in der Tat immer gefährdet, da er der Realität nicht entsprechen kann. Diese ist immer von einem Leben mit Differenzen geprägt. Die Frage ist nur, inwiefern die Menschen bereit sind, sie anzuerkennen.

Je mehr man hingegen bereit ist, diese Realität zu sehen, und je mehr man die Ansprüche einer demokratischen Gesellschaft soweit internalisiert hat, daß man mit jedem Menschen, gleich welcher Herkunft, human und respektvoll umgehen möchte, desto mehr gerät man aber in Konflikt mit dem eigenen Interesse an Zugehörigkeit und Privilegierung. Daraus resultiert ja auch die eingangs geschilderte Verunsicherung von seiten der Mehrheitsangehörigen. Die Frage ist nun, wie man mit diesen Konflikten umgeht, ob man ihnen aus dem Weg geht, oder ob sie Anlaß zur weiteren Auseinandersetzung werden.

Daran schließt sich die Frage nach dem Wie der Auseinandersetzung an. Es dürfte deutlich geworden sein, daß eine Aufklärung, die der projektiven Verzerrung des „Fremden“ das „wirkliche“ Bild entgegensetzen möchte, nicht viel bewirken kann, da sie das Interesse an der Konstruktion und Aufrechterhaltung von Fremdheit nicht thematisiert. Das Interesse am Nichtwissenwollen, an der Distanzierung und Hierarchisierung wird nicht zur Sprache gebracht. Im Gegenteil, oft dient eine solche Aufklärung erst recht dazu, die Fremdheit der anderen herauszustellen, sie zu exotisieren und so die Distanz zum Vertrauten zu unterstreichen. Dasselbe gilt für die sogenannte Kontakthypothese: Der Kontakt als solcher hilft so gut wie nichts im Abbau von Vorurteilen, weil vielfach in ihm die Hierarchie und Distanz weiter bestätigt wird. Ganz offensichtlich wird dies z.B. in einem Tourismus, in dem die Erfahrung des Fremden primär der Erfahrung der eigenen Überlegenheit dient. Bei Reisen in andere Länder ist für die Deutschen meist die Dominanzerfahrung inklusive, da die eigene „Überlegenheit“ tagtäglich in Mark und Pfennig bestätigt wird.

Aufklärung und Kontakt nützen nur dann etwas, wenn sie dissonante Erfahrungen herbeiführen, indem zum Beispiel die Hierarchien umgekehrt werden: wenn Angehörige diskriminierter Minderheiten in Führungspositionen erlebt werden, oder wenn die eigenen Normalitätsvorstellungen durch eine andere Perspektive verrückt werden und damit die eigene Definitionsmacht in Frage gestellt wird, sowie wenn über die eigenen Interessen an der Aufrechterhaltung des Status quo aufgeklärt würde. Dann kann auch die eingangs geschilderte Verunsicherung produktiv werden, wenn sie ein erster Schritt aus einer Selbstverständlichkeit heraus ist, die zögernd zu fragen beginnt, und allmählich die eigene Borniertheit und das eigene Nichtwissen und Nichtwissenwollen erahnt. Hat man sich dabei die eigene Widersprüchlichkeit bewußt gemacht, dann ist es letztlich eine Entscheidungsfrage, in welche Richtung man sich orientiert.

Literatur: Birgit Rommelspacher: „Schuldlos-Schuldig? Wie sich junge Frauen mit Antisemitismus auseinandersetzen“. Hamburg. Konkret Literatur Verlag 1995

Rainer Dollase: „Die Asozialität der Gefühle. Intrapsychische Dilemmata im Umgang mit dem Fremden“. In: W. Heitmeyer und R. Dollase (Hg.): „Die bedrängte Toleranz“. Frankfurt. Suhrkamp 1996

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