Erleuchtete Aufklärung über Raum und Zeit

■ Bremer Musiksommer: Roger Norrington dirigiert in der Glocke das Orchestra of the Age of Enlightenment

Wenn der Dirigent Roger Norrington in einer ihm fremden Stadt zu einem Orchesterkonzert eingeladen wird, fragt er als erstes: „Wie ist der Raum?“. Wenn Ludwig van Beethoven von Aufführungen seiner Werke hörte, fragte er als erstes: „Wie waren die Tempi?“.

Daß sich in unserem (Orchester) Konzertleben wider besseres Wissen letztlich so wenig verändert, dafür macht Norrington die Riesenräume des neunzehnten Jahrhunderts verantwortlich, aber auch die nicht zuletzt durch die Industrialisierung hervorgerufene autoritäre Struktur, die vorne einen mächtigen Diktator verlangt. Beethoven wollte sicher gehen: Weil die Tempi immer falsch – sprich zu langsam – waren, versah er seine Partituren mit Angaben fürs Metronom, jenem Gerät, das Anton Mälzl gerade in Wien erfunden hatte und das heute noch musizierende Kinder quält.

Das „Orchestra of the Age of Enlightenment“beantwortete im zweiten Konzert des Musikfestes beide Fragen mit „gut“, „sehr gut“sogar. Roger Norrington, zum ersten Mal in Bremen beim Musikfest 1992, kann jedem noch so scheinbar abgenudelten Repertoire, wie hier Franz Schuberts Ouvertüre im italienischen Stil, Mendelssohn-Bartholdys „Italienische Sinfonie“und Ludwig van Beethovens Violinkonzert, zu einem Leben verhelfen, als wäre die Musik im Augenblick erfunden. Sein sozusagen strikt horizontales Dirigieren, sein immer wieder beeindruckendes mimisches Staunen, als sei er selbst verblüfft, wie die Stelle gerade gelang, seine Gestik, die, um ein Bild zu gebrauchen, die Töne geradezu nach oben auswirft, garantieren der Musik außerordentliche Spontanität und Spannung nach vorn. Die Bläserfarben, die Genauigkeit der Artikulation, die Differenziertheit der Gesten ohne jegliches Pauschalisieren irgendwelcher einschmeichelnder Bögen garantieren eine Existentialität der Komposition, die sich vollkommen verbindlich, ja betroffen machend vermittelt.

Das Violinkonzert von Beethoven erklang perfekt im richtigen musikhistorischen Sinn: der Solopart hat noch die Funktion verzierender Umspielungen, das große romantische Solokonzert ist noch weit entfernt. Es war schlichtweg atemberaubend, wie Thomas Zehetmair mit vibratolosen Tönen einen schlackenlosen Klangzauber entfaltete, der noch in jedem Augenblick immer auch Struktur war. Pianissimotöne, wie sie mehr als rar sind, strömten von meditativer Intimität in die große auffahrende Geste: Das war eine Sternstunde der Interpretation. Bemerkenswert auch die Wahl der Kadenz: von Beethoven selber ist keine überliefert, wohl aber die der Transkription des Konzertes für Klavier (die von Beethoven selbst stammt). Thomas Zehetmair spielte sie für Geige, ein einfallreiches, witziges, dramatisches Stück Musik von unerhörter Virtuosität. Bemerkenswert war auch das charismatische Zusammenspiel: Wie sich die Geige immer wieder aus dem Orchester herauslöst und in es hineinwächst, war meilenweit entfernt vom oft gehörten: „Jetzt kommst Du und jetzt komm ich“.

Gleiches gilt für die körperlich sprühenden und explosiven Klangfarben von Mendelssohns genialem Frühwerk, das im langsamen Satz so viel ahnungsvolle Trauer zeigt. Bei Mendelssohn gab es Stellen, die den diktatorischen Maestro sozusagen rufen. Auch diese Geste beherrscht Norrington, aber er zitiert und ironisiert sie.

„Umdenken“, hat Norrington einmal in einem Interview verlangt, „Bereitschaft und Offenheit, die bisherige Praxis zu vergessen“. Er ist einmal mehr den Beweis angetreten, daß ihm Routine ein Fremdwort ist. Berechtigter Beifall ohne Ende, sowohl für das zu über 50% aus Frauen bestehende Orchester, den Dirigenten als auch Thomas Zehetmair.

Ute Schalz-Laurenze