: Exzessiver Lesehunger
George Steiner demonstriert kanonische Geisteshaltung und durchwandert den „Garten des Archimedes“, die Trampelpfade der Weltgeschichte und anderes philosophisch-literarische Gestrüpp ■ Von Peter Michalzik
Wenn man George Steiner böse sein will, wird man in ihm den Lordsiegelbewahrer des literarischen Kanons sehen. Es wäre für die Kanon- Kampagne, die sich die Zeit diesen Sommer auf die Fahnen geschrieben hatte, tatsächlich der ideale Anchorman gewesen. Offensichtlich hat Steiner einen unstillbaren Hunger, sich mit den großen, schweren Texten, den kanonischen eben, zu beschäftigen. Und, um das gleich vorwegzunehmen, er sieht keinen Grund, diesem Hunger irgend etwas anderes als exzessive Lektüre entgegenzusetzen.
Wenn man George Steiner noch böser wollte, könnte man ihn auch als eine Art Vulgär-Borges beschimpfen. Er gerät nämlich nicht, wie der europäischste aller Argentinier, auf Schleich- und Abwege bei seinem Gang durch das literarisch-philosophische Gestrüpp, sondern bleibt immer schön auf dem Trampelpfad der Weltgeschichte: die Tragödien, Plato, die Bibel, Shakespeare, Heidegger, Wittgenstein, Freud, Kafka, Nietzsche, Thomas Mann, um ein paar alte von den neueren der deutschen Namen aus Steiners erhabenem Kosmos zu erwähnen.
Die Lordsiegelbewahrer-Mentalität steckt im ganzen Buch, in Reinkultur führt sie der erste Essay vor. Steiner beschreibt hier „Le Philosophe lisant“, ein Gemälde von Jean-Baptiste Simon Chardin, gemalt anno domini 1734. Dabei erwärmt er sich für die ordentliche Kleidung, mit der der Leser dem Buch gegenübertritt, für die cortesia, die Höflichkeit des lesenden Herzens, die Verantwortung gegenüber dem Text, die spürbar sind. Etwas, das er später responsablen Respons nennen wird. Er sieht in diesem Gemälde alles, was mit der gewaltigen Metapher zusammenhängt, daß die Welt ein Buch ist. Selbst sein Ideal, alle opere omnia der Literaturgeschichte gelesen zu haben, sieht er verkörpert. Und, auch das, er stellt fest, daß dieser Leser nicht in eine Flughafenlounge paßt. Gut gebrüllt, Löwe.
Interessanter aber ist die Frage, was Steiner nicht sieht. Er sieht keinen Weg, wie die gegenwärtige „Atropie des Gedächtnisses“ die Erosion des Kanons, rückgängig zu machen wäre. „Unsere Schulbildung kommt heute“, sagt er, „vor allem in den USA, einer planvollen Herbeiführung von Amnesie gleich.“ Deshalb träumt er von Leseschulen und weiß doch, daß sie eine Illusion sind. Steiner muß zugeben, daß die Verfaßtheit der Welt im Text vorüber ist. Er sieht kein Kraut dagegen gewachsen, weiß aber auch sonst nichts mit diesem Befund anzufangen und will ihn letztlich nicht wahrhaben. So haftet seinem Buch der Makel an, die Welt des Lesens zu so etwas wie den Rousseauschen Urzustand zu stilisieren.
Obwohl der längste Essay sich mit der Kultur der USA befaßt, die Steiner der „europäischen Existenz“ gegenüberstellt (und die natürlich Vorreiterin des Verfalls ist), obwohl Steiner da zu wohlbegründeten, nur scheinbar paradoxen Behauptungen kommt, wie der, daß die Kultur der USA eine des Bewahrens sei, obwohl Steiner sich sogar zu der Erkenntnis durchringt, daß die egalitäre demokratische Verfassung der USA, das untragische Glücksversprechen dieses Landes auf der einen Seite, und der elitäre, das Leid akzeptierende Grundcharakter der abendländischen Kultur auf der anderen Seite einander ausschließen, fällt er letztlich immer wieder in eine nostalgische, rückwärtsgewandte Betrachtung des Erreichten zurück.
Nun ist es leicht, sich über eine solche Haltung lustig zu machen, aber es ist auch relativ sinnlos. Das eigentlich Ärgerliche an dem Buch ist auch gar nicht die Vergangenheitsfixierung, es ist das Ausweichen vor einmal Erkanntem, ein Hang, in Auffassungen zurückzufallen, die in seinen Essays schon einmal überwunden schienen. Wenn er mit Tolstoi, Platon und Wittgenstein an Shakespares Größe zweifelt, ist er am Ende doch wieder von ihm überzeugt. Wozu dann der Zweifel? Darin ist Steiners Buch typisch, nicht nur für eine Generation, sondern für die Vertreter der, nennen wir sie mal so, kanonischen Geisteshaltung.
Steiner weiß natürlich, daß ohne Verunsicherung, ohne Zweifel heute kein guter Essay mehr geschrieben werden kann – und Steiner ist, ohne Zweifel, einer der versiertesten Essayschreiber überhaupt. Deshalb hat er eine Figur eingeführt, die nicht leicht zu durchschauen ist, die in seinen Texten den Zweifel am Leben und letztlich trotzdem außen vor hält. Es ist die rhetorische Figur des „Und doch“.
Schon in seinem berühmten Essay „Von realer Gegenwart“, der sich 1985 mit der für ihn kränkenden Herausforderung des Poststrukturalismus befaßte, tauchte diese Figur auf. Steiner nimmt die Argumente der Gegenseite scheinbar ernst (obwohl doch fragwürdig ist, ob die wichtigste Idee des Poststrukturalismus ist, die Trennung zwischen Primär- und Sekundärtext abgeschafft zu haben), um dann – und doch nämlich – zu behaupten, daß man ohne den Glauben an Bedeutung, ohne Anerkennung der Auctoritas des Textes, und zwar des primären, gar nicht sinnvoll lesen könne.
Und doch, und doch, und doch. Und doch läßt uns Steiner nicht los. Und doch gibt es bei Steiner etwas, was ihn enorm lesenswert macht. Auch das steckt in allen Aufsätzen, am deutlichsten aber in „Totem und Tabu“, ein Essay, in dem von Freud trickreicher Weise mit keinem Wort die Rede ist. Tragen wir deshalb nach: Was Freuds letztes Werk, sein Moses-Buch, trotz seiner mittlerweile nachgewiesenen sachlichen Unrichtigkeit, zu einem der wichtigsten Bücher der Moderne macht, ist, wie hier Früh- und Vorhistorie aus den mythischen und religiösen Texten herausgelesen werden, mit welchem Vertrauen die „alten Geschichten“ als beste aller Beschreibungen realer Geschichten gelesen werden. Diese Form der Lektüre ist es, die Steiner wie kein anderer Literaturwissenschaftler beherrscht. Steiner liest die Dreyfusaffäre und Hitler wie Freud im „Mann Moses“ das Alte Testament, er liest die Geschehnisse und Positionen wie einen Text, in dem sich die Begriffe „Nation“, „Rasse“ und „Religion“ neu formuliert haben. Und diese Begriffe, daran läßt Steiner keinen Zweifel, sind es, die heute Geschichte schreiben, Geschichte, die etwas anderes ist als Politik.
Letztlich geht es also bei Steiner gar nicht, wie er sich und uns glauben machen möchte, um gutes oder schlechtes Lesen. Es geht, wie „Unser Heimatland: Der Text“ zeigt, um das Verhältnis von Schrift und Geschichte. Wir können gar nicht anders, so Steiners unausgesprochene Überzeugung, als gelesen werden, als den Text, den die Geschichte webt, weiterzuschreiben. Und das heißt nichts anderes als: Die Prophezeihungen der Schrift werden sich erfüllen. Und das ist Altes Testament – wer Steiner liest, ist sich nicht sicher, ob er nicht doch recht hat. Und letztlich fragt er sich sogar, ob man für solche Lektüren nicht doch etwas wie einen Lordsiegelbewahrer haben muß. Auch wenn ziemlich sicher ist, daß seine Texte stärker wären, wenn er diese Attitüde fallenließe.
George Steiner: „Der Garten des Archimedes“. Aus dem Englischen von Michael Müller. Carl Hanser Verlag, München– Wien 1997, 354 Seiten, 49,80 DM
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