Infomikrowellen

■ Walter Kempowski hat sich fleißig durch die TV-Programme gezappt und - Überraschung, Überraschung! - viel Medienmüll gefunden

In den dreißiger Jahren empfing der Tisch des Schriftstellers Alfred Polgar zwei Wochen lang Bridgeunterricht, hörte die Börsenkurse, Dramen und Opern, Wetternachrichten, Sinfonien und Gottesdienste, denn Polgar hatte eine Reise angetreten und vergessen, das Radio abzustellen: „Als der Kopfhörer wieder weggenommen war von der Tischplatte, zeigte sich dort, wo sein Mund gelegen und 14 Tage in sie hineingetönt hatte, nicht die geringste Trübung!“ berichtete Polgar. „Wenn ich denke, ich hätte während der 14 Tage den Wasserhahn offen gelassen! Es ist doch gut, daß der Geist keine Substanz hat.“

Am 16. Juni 1997 („Bloomsday“, der Tag an dem James Joyce seinen „Ulysses“ spielen läßt) hat sich Walter Kempowski, assistiert von einem guten Dutzend Hilfskräften und Aufnahmetechnikern, von acht Uhr morgens an durch die Fernsehprogramme gezappt, bis zum nächsten Morgen um drei Uhr. Das Wortprotokoll – Verkehrsmeldungen, Seifenoperndialoge, Schlager, Diätrezepte, Werbung, Nachrichten, Sport, Wetter, der Wortsalat eines durchschnittlichen Fernsehtages – umfaßt knapp 400 Druckseiten, und wer sich hindurcharbeitet, braucht die Gemütsruhe und die Standfestigkeit des Tisches von Alfred Polgar: „Daß 37 Kanäle unaufhörlich wie eine WELLA-Haarkosmetik durch die Menschheit hindurchwehen, kann durch meine Arbeit auf sinnliche Weise ins Bewußtsein dringen. Die Menschheit wird durch Informationsmikrowellen geröstet“ (Kempowski).

Auf die Idee, das laufende Fernsehgeplapper 1:1 wiederzugeben, sind auch Uwe Nettelbeck und Rainald Goetz schon gekommen; Kempowski und sein Team sind nur noch gründlicher ans Werk gegangen. Als Sammler und Archivar hat sich Kempowski zwischen „Echolot 1“ und „Echolot 2“, der riesigen Dokumentation von Feldpostbriefen, Fotos und Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg, auch um den „Tages-Irrsinn“ des Fernsehens mit der Emsigkeit des Erzählers Walter Eggers gekümmert, der sich in Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“ die Frage stellt: „Was werd ich mal in der Hölle sammeln?“: vielleicht Hufabdrücke der Teufel.“

Dabei geht Kempwoski das Risiko ein, daß seiner Leserschaft vor soviel Akribie und Materialfülle die Sinne schwinden: „Die wollen, daß ich einen Tadellöser nach dem anderen schreibe. Die werden schön gucken, wenn der Bloomsday auf dem Tisch liegt. Das kriege ich nie wieder ausgebügelt.“

Wie beim „Echolot“ tritt Kempowski hier als Autor hinter das Werk zurück, bis zur Unsichtbarkeit; sichtbar wird nur die Regie, die er mit der Fernbedienung in der Hand geführt hat, von einem Kanal zum anderen springend. Denen, die Kempowski vor allem als Erzähler schätzen, wird „Bloomsday '97“ wie ein weiterer teuflischer Hufabdruck vorkommen. Aber niemand kann von einem Schriftsteller verlangen, daß er Stoff und Stil nicht wechselt.

Große Teile seines Publikums hat Kempowski immer wieder überrascht: die eingefleischten Fans des Familienromans „Tadellöser & Wolff“ mit dem Roman „Hundstage“, dessen Held in Mordverdacht gerät und überhaupt von schillerndem Charakter ist („Er neigte, was Sexuelles anging, Gewaltsamem zu oder dessen Gegenteil“); die nach seiner Prosa Süchtigen mit dem „Echolot“; die auf weitere „Jahrhundertwerke“ Wartenden mit den Prosaminiaturen des 1995 erschienenen Bändchens „Weltschmerz“.

Und nun das. Seine verschiedenen Projekte, hat Kempowski geschrieben, „rollen wie Konservenbüchsen im leeren Laderaum eines Frachtschiffs durcheinander. Echolot 4, Echolot 5, Bloomsday, Poseidons Töchter, Dorfroman, Kleine Liebe zu Trompeten, Alkor, Plankton.“ Das Warten auf den Dorfroman, der die siebenbändige, zuletzt 1984 mit „Herzlich willkommen“ fortgesetzte Romanchronik abschließen soll, dauert nun schon 13 Jahre.

Mit „Bloomsday '97“ wird sich die Wartezeit wohl kaum verkürzen lassen. Wer wird das Buch lesen? Von vorne bis hinten? Vielleicht wird es in 20 Jahren, wenn das von 37 Sendern verbreitete Dauergebrabbel des Jahres 1997 fast so paradiesisch friedlich klingen wird wie heute die „Tagesschau“ von 1977, mehr von sich preisgeben. Zur Zeit ist kein Durchkommen möglich. Gerhard Henschel

Walter Kempowski: „Bloomsday '97“. Albrecht Knaus, München 1997, 392 Seiten, 78 DM