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Hundertjähriger Vorwurf

■ betr.: „Der Beleidigte“ (Analyse), taz vom 8./9.11. 97

Die sogenannte Goldhagen- Debatte vor stark einem Jahr – fast ist sie schon vergessen.

Aus der zeitlichen Distanz betrachtet, muß ich mir eingestehen, wie schwach letztlich die Beteiligung daran war. Wen wundert's – zwei Beispiele können für viele stehen: Der Eichmann-Prozeß fand in Jerusalem statt, Hannah Arendt, seine bekannteste Berichterstatterin, lebte in New York.

Die evangelische Kirche fand in ihrem vielgerühmten Schuldbekenntnis gleich nach dem Zweiten Weltkrieg kein Wort für die Ermordung der Juden, schrieb aber statt dessen eifrig Ablaßbriefchen für die Funktionseliten der nationalsozialistischen Zeit.

Wer sich an der Goldhagen-Debatte beteiligte, erlebte immer wieder dasselbe, gekränkte Fachhistoriker, die verständlicherweise nicht bereit waren, ihr gesamtes Werk einer nochmaligen Revision zu unterziehen, nur weil ein junger amerikanischer Politikwissenschaftler moderne Thesen aufstellt. Das war Teil des Rituals.

Und nun, ein Jahr danach, bringt die taz an hervorgehobener Stelle eine Glosse, die von neuen Untersuchungen eines kandadischen Historikerteams berichtet, eine Frau, ein Mann, die noch einmal den alten Vorwurf der Fachhistoriker wiederholen – die Glosse berichtet, ohne allerdings die neuen Erkenntnisse bekanntzumachen. Statt dessen werden die alten Vorwürfe wieder aufgewärmt und dann noch gekoppelt mit einer Bilanz der Frankfurter Allgemeinen „Goldhagen suchte Bestätigung, nirgends Erkenntnisse“. Ein ehrwürdiger, mindestens hundertjähriger Vorwurf.

Natürlich kann man alle zwölf Monate die alten Geschichten noch einmal erzählen, nur war ich der Meinung, die taz hätte einen anderen Anspruch. Wo hatte denn die Goldhagen-Debatte geendet? Es war für viele deutlich geworden, daß Geschichtsschreibung von Menschen betrieben wird, die eine jeweils eigene Erfahrung mitbringen. Und daß aus diesem Horizont geschrieben und geforscht wird.

Es war klar geworden, daß diese verschiedenen Standpunkte im Werk bekannt gemacht werden müssen, damit die Lesenden sich selbst im Gang der Untersuchung orientieren können. Beides hat Goldhagen nicht versäumt.

Und es war schließlich für viele ganz klar geworden, daß vergleichbare Untersuchungen für das Verhältnis der nationalsozialistischen Politik zu ihrer Opposition noch längst nicht in ausreichendem Maße vorliegen. Selbst die literarischen Arbeiten dazu sind nicht gerade Bestseller. Peter Weiss ist in diesem Land immer noch ein unbekannter Autor. Christiane Busch, Ulm

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