: Jesus Brandt Superstar
Der Willy ist tot, es lebe der Willy: In Dortmund wurde mit „Kniefall in Warschau“ mehr Oper gewagt – und nicht gewonnen. Statt produktiver Vertrashung des Problemkomplexes Deutschland ging es vor allem um die Rolle der Bedeutung als Basis aller Fundamente ■ Von Thomas Groß
Rau wäre das mindeste gewesen. Momper, gut und schön, Ehmke und Bahr, auch deren Erscheinen mag angehen – zumal letzterer ja seine Bühnenrolle überprüfen muß. Aber Johannes Rau, dem Oberhirten der nordrhein-westfälischen Landes-SPD, dem letzten der Vaterähnlichen, bevor übergangslos die Enkel hereinbrachen, nimmt man sein Fernbleiben so übel wie der versammelten oder eben nicht versammelten Noch- Bonner Parteielite. Bei so wenig Sinn für Tradition, das ist Konsens, kann es nicht aufwärts gehen mit der Sache. „Schreiben Sie das ruhig, junger Mann!“
Die Anrede muß als relativ angesehen werden. Wenn die Gruppe, die auf eine Anzeige im Vorwärts hin gen Dortmund gereist ist, etwas über den Zustand der Partei aussagt, hat die SPD ihr Nachwuchsproblem keineswegs im Griff. Es sind in großer Mehrheit die alten Getreuen, die „Kniefall in Warschau“, den Versuch einer Willy-Brandt-Oper, erleben wollen. Richtige, waschechte Sozis mit Strickpullovern, Künstlerweißhaar und Loki-Schmidt-Frisuren, in Ortsverbänden geprüft, vielseitig interessiert, aber eben mit der Bewegung gealtert – da macht sich keiner was vor. Ein Vater hat seinem Sohn zur Volljährigkeit die Reise nach Dortmund geschenkt, weil doch der Spirit weitergegeben werden muß. So sagt er es natürlich nicht: weil möglicherweise gerade eine Oper was aufzeigen könne „im Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Utopie“.
Um so bestürzter ist man, daß der Weltgeist in Dortmund nicht so richtig mitzuziehen scheint. Zwar lobt der freundliche, allerdings gänzlich uncharismatische Jungfunktionär vom Verband westliches Westfalen das Opernunternehmen als „ungeheuer spannende Sache“, zwar spannt Intendant/Regisseur John Dew in einer Vorrede auf dem Theater einen historischen Bogen von der Oper der Weimarer Republik bis hin zu Willy Brandt, jenem „anderen Gesicht Deutschlands“, aber der Kitzel des Historischen will sich nicht einstellen. „Zu kurz schien mir der Zeitraum zwischen Todesjahr und künstlerischer Verarbeitung zu sein“, mutmaßt Oskar Lafontaine in einem käuflich zu erwerbenden Begleitband zum Event, eine Abmoderation in absentia. Eins Live, der erfolgreiche Jugendsender des WDR, bringt es in einem Trailer über Willy, den „emotionsgeladensten Politiker des Nachkriegsdeutschland“ knapper auf die Formel: „Zuviel Politik macht Pickel“.
Kein Wunder, daß Willy Brandt, die Oper, mit einem Staatsbegräbnis erster Klasse beginnt. „Atmen... Sprechen... Warten... Wer...“ raunt der Chor, während im Hintergrund Sarkophagähnliches aufgebahrt ist und gen Himmel schreit – der Willy ist tot, es lebe der Willy! Und schon stürzt der Held, einer von drei oder je nach Blickwinkel auch vier Brandt-Darstellern im grauen Anzug herein. „Wo ist der Mann?“ – „Du bist es, du bist der Mann!“
Viel heißt das, den Schultern eines einzelnen Kerls aufzubürden – Willy: the Man! Zwar gibt es Ansätze zu „epischen“ Brechungen, zwar hat Librettist Philipp Kochheim, der beim Kniefall von Warschau gnädige drei Tage alt war, seinem Helden grüblerische Seiten beigegeben, doch viel Psychologie oder Diskussion der historischen Fakten läßt eine Form wie die Oper nicht zu – „das überlassen wir Herrn Hochhuth“ (John Dew). Statt dessen: Willy, der Womanizer, Willy, die Lichtgestalt. Bereits im norwegischen Exil empfängt er seine theatralische Mission, die dann nur noch stationenweise fortschreitet: Rückkehr aus dem Exil, draußen vor der Tür in der zerstörten Heimatstadt Lübeck, Mauerbau. Im Oberbürgermeister von Berlin schimmert – „Die Mauer muß weg! Die Mauer muß WEEEG!“ – bereits der Mann der Ostverträge durch: „Dein Gesicht wird zum Gesicht Deutschlands werden, aber sie schenken dir nichts.“
Unverkennbar befindet sich das gesamte Projekt in solchen Momenten am exponential entgegengesetzten Ende der Versuche eines Sinnmassakreurs wie Christoph Schlingensief. Statt den Problemkomplex Deutschland produktiv zu vertrashen, statt nie wieder Gesinnung von deutschem Boden ausgehen zu lassen, geht es hier gleichsam um die Rolle der Bedeutung als Basis aller Fundamente. „Die Themen Krieg und Frieden, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Gewalt und Vernunft haben sich im Gesamtwerk Rosenfelds verdichtet“, heißt es im Programmheft über den 66jährigen Potsdamer Komponisten des Kniefalls. Wer das Werk gehört hat, muß zugeben: Es ist wahr. Rosenfeld, in der Tradition Hindemiths und Eislers zugleich stehend, biedert sich nicht an. Kaum ein hook krallt sich fest. Unter weitgehend dissonantem Einsatz von Metall- und Holzschlaginstrumenten geht es ihm darum, „menschliche Lebenssubstanz Musik werden zu lassen, das in Noten zu bannen, was mit Worten unsagbar ist“.
Das Problem: Rosenfeld macht das Gleiche mit Franz von Assisi und „Friedrich und Montezuma“, der Oper, deren Aufführung der Mauerfall verhindert hat. Sein Dortmunder Singspiel, an dem zu schwer durchschaubaren Teilen Librettist Kochheim und eben John Dew mitgestrickt haben, stößt beherzt, aber ohne Reflexion seiner Mittel in ein Vakuum der gesamtdeutschen Sinnstiftung vor. Und das ist ebenso produktions- wie rezeptionsästhetisch bedenklich.
Was, fragt man sich, empfinden die lokalen Honoratioren und die Kinder von lokalen Honoratioren, die Dortmunder Kunstschaffenden im Abenddreß, was die Damen vom Reisebüro des Willy- Brandt-Hauses, die quasi als Gruppenbetreuerinnen mit von der Partie sind, und andere unspezifisch in diesen Event Hineingeschneiten angesichts dieser Willy-Exzesse – man steckt da ja nicht drin! Wenn allerdings das etwas sture Ausharren auf den Sitzen, das Räuspern und Rücken auch eine Sprache spricht, handelt es sich bei den Geräuschen im Saal um eine unterdrückte Form des Lachens. „Ich halt's nicht AAAUS! Ich halt's nicht AAAAAAAUS!“ shoutet der Bühnen-Bahr im Angesicht der Aussicht des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers, und da geht ein kleines verschämtes Auflachen, ein regelrechtes Giggeln durch die Reihen, das verrät: Auch hier, im Reiche historischen Superernsts, sind sie mitten unter uns die Leute, die finden, Oper sei, wenn Leute im Dienste eines überkommenen Kunstbegriffs ÜBERTRIEBEN SPRECHEN.
Selten gelingt der unbarmherzig zwischen den Interessen des Dortmunder Stadttheaters, der aus dem Osten ererbten Grundehrlichkeit und eigenartig nichtwahrgenommenen SPD-Repräsentationsinteressen aufgespannten Inzenierung so etwas wie ein U-E-Moment, ein Augenblick, in dem das ganze Gewese um Helden, Historie und Meister aus Deutschland Farbe annimmt – bezeichnenderweise in der Schlüsselszene. Willy in Warschau, kurz bevor es runtergeht auf die Knie. Schattenartige Gestalten mit gelben Sternen an der Kluft drängen sich nach vorn an die Rampe, werfen sich in den Staub, werden weggeschleppt. Die Musik donnert und klöppelt, bevor sie schweigt. Es ist ein Moment der freischwebenden Balance zwischen Kitsch und Gedenken, so ein erhabenes, gruseliges Holocaustmahnmalgefühl, bloß bleibt auch hier eine Frage des Blickwinkels, ob man metaphysisch ergriffen ist oder doch eher der Auffassung zuneigt, Politik mache zuviel Pickel.
„Wahrlich, die Fallhöhe ist spektakulär!“ deklamiert einer der Brandts, nachdem Spion Guillaume und die anderen Häscher Jesus B Superstar den Judaskuß gegeben – „ein abgekartetes Spiel“. Das Drama neigt sich gen Ende, der Mantel des Schweigens fällt über so unschöne Dinge wie beispielsweise den Radikalenerlaß – wo soll dafür noch Platz sein in einer um die Figur Willy Brandts drapierten Haupt- und Staatsaktion?
Nach Vorhangfall sind es die paar Semipromis, um die die Kameras sich drängeln, was das Dortmunder Mehr-Oper-Wagen in Richtung soziale Plastik verschiebt, aber nicht unbedingt fördert. Dabei hätte man dem SPD- Urgestein, den 18jährigen Söhnen mit ihren geschenkten Reisen, dem nachgeborenen Librettisten, dem ganzen besseren Sozitum im Angesicht des Superwahljahrs auch mal einen Hit gewünscht. So bleibt Oskar Lafontaine, dem Abwesenden, das letzte, zu allem Überfluß auch noch von Willy Brandt geborgte Wort: „Man hat sich bemüht.“
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