„Wir haben Autonomie in einem kleinen Käfig“

■ Der Politologe Ting Wai von der Hong Kong Baptist University zur Situation in Hongkong sechs Monate seit dem Souveränitätswechsel: Nicht der Alltag, sondern die Philosophie hat sich verändert

taz : Was hat sich für Hongkongs Bevölkerung seit der Rückgabe an China geändert?

Ting Wai: Oberflächlich betrachtet nicht viel. Aber für Menschen außerhalb Hongkongs hat die Stadt mehr psychologisch als real an Attraktivität verloren. Das Territorium ist nicht mehr eine Kolonie und damit Teil des Westens, wie es international gesehen wurde, sondern ein Teil Chinas. Das macht die Stadt trotz ihrer Offenheit zum Beispiel für Japaner oder Taiwanesen weniger attraktiv. Wenn Hongkong langfristig aber immer mehr als große chinesische und weniger als internationale Stadt gesehen wird, werden die Tourismuseinnahmen weiter sinken und damit das Einkommen der Bevölkerung.

Die Regierung sagt, es hätte sich nichts verändert, es herrsche sozusagen „business as usual“.

In letzter Zeit sagt sie das nicht mehr so oft. Seit dem Finanzschock vom Oktober hat Hongkong Rückschläge erlitten: Die Börsenkurse sind abgestürzt, die hohen Zinsen haben den Immobilienmarkt einbrechen lassen. Dazu kommen die Probleme im Tourismus. Hongkongs wirtschaftliche Lage hat sich verschlechtert. Es hat erste Entlassungen gegeben. Generell kann man vielleicht noch von „business as usual“ sprechen, weil die Menschen weiter ihre Freiheiten genießen und die Regierung weiter funktioniert, aber Hongkong hat jetzt wirtschaftliche Probleme.

Wie wirkt sich die chinesische Souveränität aus?

Mit Ausnahme roter chinesischer Fahnen mit fünf goldenen Sternen, die vor Regierungsgebäuden und Militärkasernen wehen, nimmt die Bevölkerung die Souveränität Chinas nicht unmittelbar wahr. Das Problem ist nicht die wachsende chinesische Präsenz im Alltag. Die war zu erwarten, schließlich ist Hongkong jetzt ein Teil Chinas. Wir hoffen aber, daß, wenn immer mehr Festlandchinesen hier Geschäfte machen, sie das auf unsere Art tun und sich an unsere rechtsstaatlichen Regeln des fairen Wettbewerbs halten. Dies soll nicht wie in der Volksrepublik üblich über Beziehungen und Privilegien geregelt werden.

Wie entwickelt sich Hongkongs Demokratie, die schon unter den Briten eingeschränkt war?

Der nicht-gewählte Provisorische Legislativrat und das Wahlgesetz für die Wahlen 1998 sind Rückschritte. In den vergangenen sechs Monaten waren Demonstrationen zwar weiter erlaubt, aber die Polizei ist strenger geworden. Demonstranten dürfen manchmal nur in einem sehr kleinen Gebiet demonstrieren. Das ist noch keine besonders schwerwiegende Einschränkung des Demonstrationsrechts, aber früher gab es das nicht.

Wie bewerten Sie Hongkongs neue Regierung?

Es gibt eine Änderung der herrschenden Philosophie. Wir sind an eine liberale und offene Gesellschaft mit einer kleinen Regierung gewöhnt. Unser Regierungschef orientiert sich an Singapur. Er will eine stärkere Regierung, die das Land als Lokomotive führen soll. Im Hinblick auf die Effizienz gibt es keine Probleme. Die Verwaltung besteht aus den gleichen guten und fähigen Technokraten. Chinas Regierung sagt, sie wird nicht intervenieren. Peking geht aber davon aus, daß Hongkongs Regierung die von Peking gesetzten Grenzen der Autonomie akzeptiert. Wir haben ein hohes Maß an Autonomie, sind aber gleichzeitig in einem Käfig. Chinas Regierung erkennt unsere Autonomie auf der Grundlage an, daß wir den Käfig nicht verlassen oder verändern. Hongkongs Regierung muß sich der Maße des Käfigs bewußt sein. Traurig ist, daß die Regierung sich selbst beschränkt und schon mit einem kleinen Käfig zufrieden ist. Peking ist natürlich sehr froh darüber. Das ist sehr chinesisch: Als Untergebener sollte man nicht warten, daß einem der Boß etwas verbietet. Man sollte vielmehr von selbst darauf kommen, was der Chef nicht will. Doch wer beim Boß nie Anstoß erregt, schränkt sich selbst ein. Und das ist schlecht für Hongkong.