: Wir Kohl
■ betr.: „Gott segne unser deutsches Vaterland“ (Die Neujahrsanspra che von Bundeskanzler Helmut Kohl), taz vom 31.12. 97/ 1.1. 98
Turnusgemäß und obligat bricht mal wieder die „Neujahrsansprache“ des Kanzlers in diese „letzten Tage des Jahres“ ein. In diese „kostbare Zeit“, wie es die Floskel und der Kanzler wollen. Von „Zeit“ ist da die Rede in diesem Text, der in seiner zeitlosen Häßlichkeit und im Doppelpack mit demjenigen, in dessen Namen er verlesen wird, wie nichts anderes Symbol für die Stagnation, den Mißbrauch von Zeit ist. Wenn uns die „Weihnachtsbotschaft“ daran erinnert, „daß wir auf die Liebe Gottes zu den Menschen und seiner Schöpfung vertrauen dürfen“, wie der Kanzler beharrlich zu Protokoll gibt, so erinnert uns die Neujahrsbotschaft des Kanzlers daran, wie wenig (oder viel) wir ihm zutrauen dürfen.
Es bedürfe „vieler, die bereit sind, nicht nur ,Ich‘, sondern auch ,Wir‘ zu sagen“. Sagt's und tut's, der Kanzler. Artig hält er mit dem „Ich“ hinter dem Berge (zehnmal), um genug Luft für die vielen „Wirs“ zu haben: stolze 33mal in verschiedenen grammatikalischen Abarten. Aber ist denn wirklich das böse „Ich“ der Parasit, den es zu vernichten, der Virus, den es auszumerzen gilt? Sind es nicht vielmehr all die „Ihrs“, gegen die „uns“ das „Wir“ ein Bollwerk sein soll?
Wer „wir“ sagt, kann und muß „auch Ich“ meinen. Aber wenn der Kanzler „wir“ sagt, so legt es uns dieser Text mal wieder nahe, dann meint er vor allem „und ihr nicht“. Da spukt und spuckt es nur so von kleinen Wir-Enzymen, die sogleich ihre spalterische Arbeit tun. Was uns von dem Schwerverdaulichen, Dennochverdauten dann übrig bleibt, ist zwar nicht schön anzusehen, aber aufschlußreich: Daß wir diejenigen sind, die „auf die Liebe Gottes zu den Menschen und seiner Schöpfung vertrauen“, überrascht uns nicht, auch daß wir uns aufs Neue in „unserem deutschen Vaterland“ wiederfinden, gehört zum graubraunen Alltag. Daß wir die Mieter im „Haus Europa“ sind, ... geschenkt. Daß unsere Mitmieter sich jedoch bitte nur aus den „Völkern unseres Kontinents“ rekrutieren – ups!, da stoßen uns die Enzyme schon mal bitter auf. Für einen ausgewachsenen Schluckauf sorgt dann das väterliche Denken („Ich denke“) über die „jungen Menschen“, denn die sind unser „größter Reichtum“ (Remember? Du mußt Dich entscheiden, vier Felder sind frei: alt oder jung, reich oder arm?), vor allem aber stecken sie in Uniform und arbeiten „bis zur Erschöpfung“ wahlweise im „Oderbruch“ oder in „Bosnien- Herzegowina“ (zwei Felder). Die nächste bittere Pille bringt uns in ernste Schwierigkeiten, denn „wir dürfen die Arbeitslosen und ihre Familien nicht ihrem Schicksal überlassen“. Und da dachten wir, die gehörten wenigstens in „den letzten Tagen des Jahres“ dazu! Wen jetzt noch nicht der Brechreiz gepackt hat, der möge sich mit „den vielen Menschen“ Erleichterung verschaffen, die unter „Lebensangst“ leiden. Denn auch vor denen „bewahrt“ uns der Glanz dieser kostbaren Zeit.
Jawohl, Herr Kohl, „wir“ haben verstanden! Und wem meine Lektüre gewaltsam vorkommt, der möge versuchen, die „Neujahrsansprache“ wohlwollend zu lesen. Als Einstieg böte sich das Wörtchen „Luxemburg“ an, das sich da hineingeschlichen hat. Aber kein „Rosa“ weit und breit (obwohl es sich sicher recht schön gemacht hätte inmitten all der „Hoffnung“, „Zukunft“, „Zuversicht“) – und das wäre dann gewaltsam. Tobias Hering, Berlin.
[...] Die Wahrheit auf der ersten Seite! Soviel Witzischkeit war auf nüchternen Magen kaum zu ertragen, veranlaßte mein Verdauungsorgan auch prompt zu einer für mein Wohlbefinden ungünstigen Reaktion: Sodbrennen.
Für den nächten Jahreswechsel schlage ich deshalb vor, die Seite 1 unbedruckt zu lassen, auf daß jede(r) taz-LeserIn sich ihre/seine eigene, dem persönlichen Geschmack entsprechende Neujahrsansprache in den besinnlichen Stunden vor Mitternacht zusammendichten kann. Uwe Tünnermann, Lemgo
Danke für Eure geniale Titelseite für die Sylvesterausgabe! Ich habe sie auch nicht so mißverstanden, daß die taz im neuen Jahr nun die staatstragende Zeitung schlechthin in diesem unserem Lande werden soll. Ich fand sie zunächst einfach nur umwerfend komisch. Später allerdings, als ich die Rede am Fernseher aus dem Munde Kohls noch einmal hörte und dann auch mitlesen konnte, blieb mir das Lachen doch im Halse stecken. Der Text hat es in sich und verdient es, auf versteckte Programmatik hin einmal untersucht zu werden! Michael Luhn, Hamburg
Auch nach mehrmaligem Betrachten der ersten Seite bleiben viele Fragen, die unbedingt von euch bzw. der zuständigen Redakteurin beantwortet werden müssen! Warum druckt ihr unkommentiert und ohne redaktionellen Kommentar die Neujahrsansprache unseres Kanzlers ab? Wollt Ihr herausfinden, ob es der durchschnittlichen taz-Leserin nach 19 Jahren taz überhaupt noch auffällt, was so geschrieben und gedruckt wird? Geht es darum, im etablierten Blätterwald endlich auch den Segen der Mitte-/Rechts-Leserschaft in diesem Lande zu erhalten?
Sind die verantwortlichen Redakteure kurzfristig krank geworden oder anderweitig verhindert gewesen, und mußte somit die redaktionelle Bearbeitung dieses Zeitdokumentes unterbleiben?
Auch der Verdacht, es handele sich um eine Art Provokation, scheint nicht zu stimmen, da Kohls Verweis auf die tapferen Bundeswehrsoldaten im Oderbruch deutlich auf das Jahr '97 zielt, also eine Rede aus den vergangenen Jahren demnach ausscheiden müßte.
Fragen über Fragen, die in meinem taz-lesenden Bekanntenkreis leidenschaftlich diskutiert werden. Bitte erlöst uns von der Ungewißheit, und gebt uns Orientierung, damit wir nicht orientierungslos in das neue Jahr fallen. Thomas Nitzschmann, Hamburg
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