piwik no script img

Wer sorgt für die Kinder der Armut?

■ betr.: „Wer sorgt für die Kinder der Freiheit?“, taz vom 15.1. 98

Harry Kunz schreibt, daß ein gesellschaftlicher Grundkonsens darüber fehlt, was man Kindern zumuten kann. Ich stimme ihm zu, was diesen Satz betrifft, aber anders, als er es meint: Er spricht davon, daß die Gleichgültigkeit von Broken-home-Milieus dafür verantwortlich sei, daß zirka 100.000 Kinder in Heimen und Pflegestellen leben, von Eltern wie defektes Spielzeug beiseite geschoben.

Es ist nicht eine ominöse „Gleichgültigkeit von Broken- home-Milieus“, die dafür sorgt, daß Kinder in Heimen oder Pflegefamilien leben, oder das Ausleben von „persönlicher Selbstentfaltung“ gegenüber „sozialen Verpflichtungen“, sondern schlicht und einfach Armut. Armut ist hier in einem weiteren Sinn gefaßt als nicht nur materieller Mangel, sondern als Häufung von Unterversorgungslagen: Einkommen, Bildung, Arbeit, Wohnung, Gesundheit und mangelnde Verfügbarkeit sozialer und gesundheitlicher Dienste. Jede Untersuchung zu Fremdunterbringung und Problemen der Vernachlässigung von Kindern kommt zu dem Ergebnis, daß es diese Häufung von unzureichenden Lebensbedingungen – und der damit verknüpften Risiken – ist, die eine Gefährdung der Kinder darstellt und die Familien – seien es Familien von alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern, Kernfamilien oder Stieffamilien – so belasten, daß sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder selbstverantwortlich zu versorgen.

Der Grund ist nicht, daß Kinder nach einer Scheidung „nur noch ein lästiges Relikt einer vergangenen Zeit“ darstellen. „Die kostenintensive Heimerziehung droht zu einem Ausfallbürgen für gesamtgesellschaftliche Problemlagen zu werden. Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind nach Aussage unserer Untersuchungsergebnisse junge Familien mit kleinen Kindern. Für diese Gruppe gibt es bislang keine Lösungen, die eine sinnvolle Kombination von finanzieller Hilfestellung, Formen der Erziehungshilfe und anderen sozialen Dienstleistungsangeboten bereitstellen.“ (Untersuchung über aktuelle Probleme der Heimerziehung in Rheinland-Pfalz, Mainz 1994, Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.).

Vernachlässigung im weitesten Sinn, die dann zu Fremdunterbringung von Kindern führt, entwickelt sich aus einer „Normalität“ von chronisch äußerst schwierigen Familienkonstellationen, in denen Risikofaktoren sich häufen (siehe dazu: Schone u.a.: „Kinder in Not“, Votum-Verlag Münster, 1997). Was diese Gesellschaft einer Reihe von Kindern tatsächlich zumutet, ist Leben unter Armutsbedingungen. Die Frage lautet für mich nicht: „Wer sorgt für die Kinder der Freiheit“, sondern: „Wer sorgt für die Kinder der Armut?“ Und bisher gibt Vater Staat die Antwort: Er sorgt, indem er die Kinder in Heimen und Pflegefamilien unterbringt, statt die Herkunftsfamilien in vernünftiger Weise zu unterstützen. Sinnvolle Konzepte zur Verbesserung der Situation von Kindern aus armen Familien sehe ich in folgenden Bereichen: Verbesserter Familienlastenausgleich für Familien mit niedrigem Einkommen und vielen Kindern, verbesserte flexible Kinderbetreuungsmöglichkeiten für alleinerziehende Mütter als auch flexible Kinderbetreuung vor allem von Kleinkindern beispielsweise in qualifizierter Tagespflege, um alleinerziehende Mütter zu entlasten, pädagogische Konzepte in Schulen, die über die rigide Einhaltung von Leistungsnormen hinaus Kinder aus schwierigen familiären Situationen besser einbeziehen, Wohnungsbaupolitik, die bezahlbare und ausreichende Wohnungen für Familien mit Kindern schaffen – und natürlich Arbeitsplätze, und dann ein Ausbau eines qualifizierten Netzes ambulanter sozialpädagogischer Hilfen für Familien und so weiter.

Die Art schlechter Dramatisierung in der Beschwörung von „Broken-home-Milieus, von denen Kinder wie schlechtes Spielzeug beiseite geschoben werden“, finde ich äußerst ärgerlich, abgesehen davon, daß es schlichter Schmarrn ist. Elisabeth Helming,

Dipl.-Soziologin, München

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen