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Gläubige in eigener Sache

■ betr.: „Groteske Finanzfumme lei“, taz vom 31.1./1.2. 98

Seit nunmehr fast 30 Jahren rotten sie sich alljährlich im Januar in Davos zusammen – die Apologeten der Marktwirtschaft. „Weltwirtschaftsforum“ nennen sie ihr Ritual, und schon die Bezeichnung, unter der sie zusammenkommen, ist eine Lüge. Denn bei ihren Gesprächen geht es gar nicht darum, wie die Menschen dieser Welt wirtschaften. Die Apologeten sprechen vielmehr nur über eine ganz bestimmte Form des Wirtschaftens, die sich in der Tat mittlerweile über den ganzen Erdball verbreitet hat. Sie sprechen über die Wirtschaftsform, die sie verschämt „market economy“ (Marktwirtschaft) oder mit dem Adjektiv „free enterprise“ (marktwirtschaftlich) kennzeichnen. Wie alle Apologeten sind sie als Gläubige in eigener Sache unterwegs – der Sache des Kapitalismus. Und wie bei allen Glaubensrichtungen muß ihre Lehre stimmen. Dabei haben Gläubige es leicht: Die Wahrheit finden sie nicht etwa in der Wirklichkeit, sondern in der Lehre selbst.

Die Lehre ist die Sache der Priesterschaft. Und wie wohl kein Krieg denkbar ist ohne den Segen einer Kirche, so ist wohl auch die tägliche Ausbeutung von Menschen und der Natur nicht denkbar ohne die frommen Sprüche von Wirtschaftswissenschaftlern. Denn sie sind die Priester des Kapitalismus, deren Anhänger ihren Segen brauchen, wie die Pflanze das Wasser.

Die Widersprüche zwischen der Lehre und der Wirklichkeit nehmen zu. Rüdiger Dornbusch, Professor am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und – so sagt man – angesehener Experte für Währungsfragen, versucht denn auch den wachsenden Bedarf an Erklärung zu befriedigen. Für ihn ist die Wirtschaftskrise nicht die zwangsläufige Folge kapitalistischen Wirtschaftens. Das Beben in dieser Region kann er sich nur als unangenehmen Effekt dunkler Machenschaften vorstellen, „Kryptokapitalismus“ nennt er das Phänomen, wohl im Gegensatz zum „normalen“ Kapitalismus. In seiner Anschauung waren es dann auch nicht Kapitalisten, die durch ihr – aus ihrer Sicht – vernünftiges Tun die Krise verursachten. Die Regierungen waren es, die da angeblich fehlerhaft agierten. Es könnte alles so schön sein, wären sie keine „Raffkes“ und nicht so korrupt, so seine Botschaft. So schöpfen sie wieder Hoffnung, die Gläubigen. Denn was kann die gute, fehlerfreie Lehre dafür, wenn Regierungen böse sind oder töricht handeln, kurz, wenn sich die Wirklichkeit gegen sie verschworen hat.

Aber es ist der ganz gewöhnliche Kapitalismus, der solche Krisen produziert. Die Krise ist die völlig normale Art der Lösung des grundlegenden Zwiespaltes, in dem der Kapitalismus wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben wird: Der eine Stein ist seine unbeschränkte Ausdehnungsfähigkeit der Produktion, der andere Stein sind die engen Schranken des Absatzmarktes. Die Krise ist die Normalität. Und je länger sich ein störungsfreier Ablauf hinzieht, um so heftiger und gewaltiger wird sich das dann angestaute Potential in der Krise lösen. Es war Rosa Luxemburg, die sich 1899 in dem Text „Sozialreform oder Revolution?“ mit Eduard Bernstein – auch er ein Glaubender – auseinandersetzte und dort den folgenden Satz schrieb: „So erscheinen sie (die Krisen) als Mittel, das Feuer der kapitalistischen Entwicklung immer wieder zu schüren und zu entfachen, und ihr Ausbleiben (...) würde bald die kapitalistische Wirtschaft nicht, wie Bernstein meint, auf einen grünen Zweig, sondern direkt in den Sumpf gebracht haben.“ Wolfgang Maul, Nürnberg

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