■ Die Arbeitslosen versuchen sich als eigenständige Kraft zu etablieren: Von Frankreich lernen
„Vive la France!“ So deutlich sagen es die protestierenden Arbeitslosen zwar nicht. Aber in keinem Aufruf zu den gestrigen Aktionen durfte der Hinweis auf die Besetzungen von Arbeitsämtern im Nachbarland fehlen. „Solidarität mit den französischen Arbeitslosen“ – in dieser Parole schwingt das neidvolle Staunen darüber mit, was in Frankreich möglich ist und in Deutschland nicht. Außerdem die Hoffnung, daß die in der politischen Mitte auf dem Fundament einer großen CDU-SPD-Gewerkschaftskoalition betonierten Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden mögen. Mit der Anknüpfung an die Ereignisse jenseits der Grenzen entsteht etwas Neues, das über die Arbeitslosenproteste vergangener Jahre hinausgeht – die Idee eines Europa von unten, in dem 20 Millionen Ausgesonderte ihre Stimme erheben gegen das demokratisch nicht legitimierte, stabilitätsfixierte Sparprojekt der Regierungen.
Die ökonomische Integration der europäischen Nationen samt ihrer unsozialen Kürzungspolitik verringert sichtbar die Integrationsfähigkeit des westdeutschen Nachkriegssystems, das 40 Jahre lang steigende Löhne der Arbeitenden und umfangreiche Sozialleistungen aus den Wachstumsgewinnen finanzierte. Jetzt stehen – offiziell – fast fünf Millionen Menschen draußen. Schüchtern meldet sich aus Memmingen eine Arbeitslosen-Gewerkschaft und aus Wuppertal eine Arbeitsucher-Partei. Diese Versuche mögen hilflos wirken, trotzdem sind sie eine deutlich sichtbare Reaktion auf die zunehmende Spaltung der Gesellschaft.
Vor allem aus dem Osten gerät das korporatistische westdeutsche System unter Druck. Die einzige eigenständige Kraft, die die bundesweiten Proteste organisierte, ist der Arbeitslosenverband, dessen 10.000 Mitglieder vor allem in der Ex-DDR leben. Von dort kommt auch die Forderung nach der 28-Stunden-Woche und der Senkung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 auf 35 Stunden.
Auch wenn diese Parolen realpolitisch nicht viele Chancen haben mögen – sie attackieren den Konsens, den die Gewerkschaften mittragen. Der Aufruf zu den Protesten kam nicht von der IG Metall, der ÖTV oder dem DGB, sondern von den gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen. Zu denen halten die Traditionsgewerkschaften zwar lockeren Kontakt, geben ihnen Versammlungsräume und Kopiergeräte, doch mit dem Protesttag haben sich die Underdogs selbständig gemacht.
In Berlin wollte der DGB sagen, wo es langgeht, aber die Demonstration lief aus dem Ruder. Gänzlich ungeplant rüttelten die Protestler schließlich an den Pforten des Roten Rathauses, dem Regierungssitz von CDU-Bürgermeister Diepgen. Weil der DGB- Kreisvorsitzende die Aktion dort für beendet erklärte, sah er sich wütenden Beschimpfungen ausgesetzt. Was haben die Arbeitslosen vom Gewerkschaftsbund auch zu erwarten? Erklärten doch führende Gewerkschafter gerade das „Ende der Bescheidenheit“. Höhere Lohnabschlüsse werden wieder in erster Linie den Beschäftigten dienen – das Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen, gerät in den Hintergrund.
Auch die Bonner Regierungskoalition reagierte so schnell, weil die Proteste einen eigenständigen Charakter haben: Mit 100.000 Jobs für Sozialhilfeempfänger versucht man allerdings nur zu verschleiern, daß sich an der Tagesordnung nichts ändern soll.
Das Rütteln am Konsens freilich steckt noch in den Kinderschuhen. Die Proteste zeigten sich brav und hatten meist mit zivilem Ungehorsam nichts zu tun. Sie dienten dazu, sich der eigenen Aktionsfähigkeit zu versichern, aus der Vereinzelung herauszukommen und die vermeintliche Schande des persönlichen Versagens angesichts der vergeblichen Suche nach einem Job zu überwinden.
Den Arbeitlosen fehlt zudem ein politischer Adressat mit einem klaren Reformprogramm – an einen Aufbruch bei den Bundestagswahlen im Herbst glauben nur die wenigsten. Da haben es die französischen Kollegen mit ihrer sozialistisch geführten Regierung leichter. Die versprach wenigstens Omelette. Wer kriegt da nicht Hunger auf Lachs? Hannes Koch
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