Turmspringen für Nichtschwimmer

Der Freestyle-Olympiasieger Eric Bergoust hat ein Plus: Er ist erst 4.645mal gestürzt. Im Gegensatz zur Konkurrenz ist er folglich noch relativ gesund  ■ Aus Iizuna Kogen Matti Lieske

Trotz schmerzender Rippen schwingt sich Eric Bergoust von der Rampe in die Luft und stellt fest, daß er verdammt hoch und schnell unterwegs ist. Während er seine drei Salti und vier Schrauben vollführt, streckt er den Körper so lang wie möglich, um das Tempo des Fluges zu verlangsamen. Den Erfolg dieses Manövers sieht man sogleich: Genau im richtigen Moment landet der US-Amerikaner mit beiden Skiern auf dem Boden und kann den Sprung erfolgreich ohne Sturz beenden.

Das ist keineswegs selbstverständlich beim Freestyle-Springen, dessen Betreiber von bösen Zungen gern als Crash Test Dummies bezeichnet werden. Nirgends – außer vielleicht bei Hermann Maier im Abfahrtslauf – wird so schön geflogen wie beim Freestyle, nirgends so häufig bruchgelandet. Bergoust zum Beispiel hat kurz vor dem Finale beim Training seinen „schwersten Sturz der letzten zwei Jahre“ erlebt. „Ich landete mit der Brust“, erzählt er, „und als ich den Berg runterrollte, war ich nicht sicher, ob ich beim Wettkampf starten könnte.“ Dann stellte er fest, daß nichts gebrochen war, trat an und gewann mit seinen zwei vorzüglichen „Full Double-full Full“- Sprüngen und der besten Gesamtnote aller Zeiten die Goldmedaille.

Die Aerials sind neben der Buckelpiste zweite Disziplin des seit 1994 olympischen Freestyle und eine Art Turmspringen für Nichtschwimmer, nur mit dem Unterschied, daß sich die Skifahrer bis in eine Höhe von fünfzehn Meter über dem Landepunkt katapultieren und mehr Zeit zu akrobatischen Drehungen haben als die Wasserspringer. Bei einer derartigen Massierung zentrifugaler und zentripetaler Kräfte ist es kaum ein Wunder, daß in der Qualifikation die Teilnehmer reihenweise mit Kopf, Rücken oder Bauch zuerst aufschlugen und es diverse Verletzungen gab.

Die Springer im Finale der besten zwölf waren zwar sicherer, aber gegen Unbill sind auch sie nicht gefeit, wie Bergoust und die Chinesin Xiaoou Ji bewiesen, die sich ebenfalls im letzten Training so den Fuß lädierte, daß sie nicht antreten konnte.

Alle Medaillengewinner gaben zu, daß sie Angst haben bei der Ausübung ihres Sports, besonders, wenn sie etwas Neues versuchen. Als Eric Bergoust erstmals die vier Drehungen probierte, hätten ihm buchstäblich die Knie gezittert. „Sonst gibt es das nur in Comics“, sagt der 28jährige, „aber bei mir war es wirklich so.“ Die meisten Aerial-Freestyler haben schwere Verletzungen hinter sich.

Der US-Amerikanerin Nikki Stone, die vor der winzigkleinen Chinesin Nannan Xu Gold bei den Frauen gewann, sagten die Ärzte vor zwei Jahren, daß sie nie mehr springen könne. Eine Bandscheibenoperation schuf jedoch die Voraussetzung für den Olympiastart. „Goldmedaille, Goldmedaille, Goldmedaille“, habe sie während der langwierigen Rehabilitation die ganze Zeit gedacht, berichtet die 27jährige.

Der französische Silbermedaillengewinner Sebastien Foucras feierte gestern den „Geburtstag“ seines Knies, das vor genau einem Jahr operiert worden war, nur Bergoust hatte bisher relatives Glück. „4.645“, sagt der Mann mit dem trendigen Unterlippenbärtchen und den Rasiermesserkoteletten auf die Frage, wie viele Stürze er in den letzten zehn Jahren fabriziert habe, aber ernste Blessuren blieben ihm erspart.

Sein schlimmstes Erlebnis habe er stets gehabt, wenn er schlecht sprang. „Drei Jahre lang bin ich fürchterlich gesprungen“, berichtet Bergoust, der sich mit 18 als „kleiner, dürrer Kerl“ aus Missoula, Montana, nach Lake Placid zum Trainingszentrum der Freestyle- Athleten aufmachte, nachdem er einen Wettkampf im Fernsehen gesehen hatte und begeistert war. Er sei immer überzeugt gewesen, daß er es lernen könne, wenn er genug übe, aber „Tag für Tag ein Versager zu sein“ wäre schon hart gewesen.

Unterstützung bekam er von seinen ebenfalls springenden Brüdern und vor allem von seinem Vater. „Er ließ T-Shirts mit der Aufschrift ,Flying Bergoust Brothers‘ drucken, die wir verkauften, um die Teilnahme an der Tour zu finanzieren“, erzählt der Olympiasieger, während Daddy im Auditorium stolz lächelt und eine Plakette mit dem Bildnis des erfolgreichen Sohnes herumzeigt.

In den letzten vier Jahren habe die Sportart gigantische Fortschritte gemacht – sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen –, aber Bergoust ist sicher, daß die Entwicklung keineswegs am Ende ist. „Wir springen seit zehn Jahren vierfach, jetzt wollen wir fünf Drehungen probieren“, kündigt er an, dazu gehöre jedoch viel Training. Für andere Sportarten, die er ebenfalls liebt, dürfte dann wenig Zeit sein. Fässer überspringen etwa, eine Disziplin, in der Eric Bergoust Meister von Montana ist, und überhaupt alles, was mit Akrobatik zu tun hat. Früher habe er auch Football gespielt, was er jetzt nicht mehr tue. Begründung: „Ich habe Angst, mich zu verletzen.“