Der Fahrstuhl steht schon bereit

Nach dem 0:3 gegen den MSV Duisburg befürchten Fans von Borussia Mönchengladbach nicht nur den Sturz in die Zweitklassigkeit, sondern eine erheblich weitgehendere Talfahrt  ■ Von Holger Jenrich

Im Jahr 2030 wird es sein, auf irgendeinem Privatsender. In einer Sendung, die „Balla Balla“ heißen wird oder „Gib dir die Kugel“ oder so ähnlich. Der 86jährige Seniorenheimbewohner Hartwig Bleidick und der um ein Jahr ältere Rollstuhlfahrer Heinz Wittmann werden mitsamt munterem Moderator in kunterbunten Kulissen sitzen. Und sich jenes Tages vor 60 Jahren erinnern, als sie erstmals deutsche Fußball-Meister geworden waren. Von Bleidick und Wittmann hat das jugendliche Publikum noch nie etwas gehört. Und von ihrem damaligen Verein auch nicht. Borussia Mönchengladbach hat sich vor 32 Jahren aus der Bundesliga verabschiedet. Und konkurriert mittlerweile mit dem VfL Anrath, Grün-Schwarz Viersen und dem SV Lürrip um den Klassenerhalt in der Kreisliga B.

Hört man sich nach dem fatalen 0:3 gegen den MSV Duisburg um unter Ketzern am linken Niederrhein, so steht diese oder eine ähnliche Entwicklung Deutschlands einstigem Vorzeigeclub unmittelbar bevor. Vier Spiele hat der fünffache deutsche Meister, zweimalige Uefa-Cup-Sieger und Pokalsieger von 1973 und 1995 noch Zeit, die Abstiegsränge zu verlassen. Gelingt dies nicht, und dafür spricht eigentlich alles, befürchten viele ein Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit. Mit „They never come back“-Garantie. „Wie Kaiserslautern eine Saison zweite Liga spielen und dann wieder aufsteigen“, meint ein frustrierter Dauerkarteninhaber mit Nordkurven-Treuebonus, „so einen Charakter hat Borussia einfach nicht.“

Sündenböcke, denen man die Schuld am Desaster in die Schuhe schieben könnte, gäbe es viele in Mönchengladbach. Einen Superstar Effenberg, dem die viele Knete das Hirn verklebt und die Füße verknotet hat. Einen Mittelstürmer Juskowiak, der selbst an doppelt so breiten und doppelt so hohen Toren meilenweit vorbeischösse. Einen Ex-Präsidenten Drygalsky, dem die eigene Sonnenbräune oftmals wichtiger schien als der Erfolg des Vereins. Doch der eigentliche Sargtischler der Borussia kommt – wen wundert's – aus der Geldbranche. Der gelernte Bankkaufmann Rolf Rüssmann ist als Manager in Mönchengladbach mit einer Machtfülle ausgestattet, die bisweilen der afrikanischer Despoten gleichkommt. Nur daß die irgendwann mit Erfolg aus ihren Ämtern und Gemächern vertrieben werden...

„Bokassa“ ruft den Herrn mit dem schütteren Haar am Niederrhein noch niemand. Vielleicht, weil das Bildungsniveau der Bökelberg-Pilgerer derartige intellektuelle Höhenflüge nicht zuläßt. Vielleicht auch, weil sich der 47jährige rein strafrechtlich außer eines Meineids und eines kleinen Bestechungssümmchens zu seligen Schalker Skandalzeiten nichts hat zuschulden kommen lassen. Doch die Unmutsbekundungen über des starken Mannes Fehlleistungen werden zunehmend lauter, die Sprüche zunehmend frecher, die Phantasien zunehmend drastischer. „Time to say good bye“ orakelt das Fanzine 90 Minuten und mehr in Richtung Rüssmann. Und ein Fanclub-Mitglied aus der Eifel kokettiert offen mit der kathartischen Wirkung der Katastrophe: „Meinetwegen sollen die ruhig absteigen. Dann sind wir wenigstens den Rüssmann los.“

Gemocht hat man den Gelsenkirchener in Gladbach noch nie so recht. Aber man hat ihn geschätzt. Rüssmann hat dem chronisch klammen Club Sponsoren zugeführt, das Merchandising-Geschäft auf Hochtouren getrimmt, den möglichen Bau eines neuen Stadions auf den Weg gebracht. Und er hat mit ungeheurer Treffsicherheit zur richtigen Zeit die richtigen Leute an den Bökelberg geholt. Mit Kastenmeier, Andersson, Fach, Dahlin, Herrlich und nicht zuletzt Effenberg ergänzte er einen durchschnittlichen Spielerstamm derart trefflich, daß 1995 der Pokalsieg, 1996 die neuerliche Uefa- Cup-Teilnahme und insgesamt die Perspektive als „dritte Kraft im Lande“ zu Buche standen.

Doch die Erfolge stiegen Rolf Rüssmann zu Kopf. Je mehr der zuvor in der Bedeutungslosigkeit verschwundene Verein wieder interessanter wurde, desto mehr spielte er sich in den Vordergrund. Und riß in einer Mischung aus Selbstherrlichkeit, Dünnhäutigkeit, Ungeschick und Machtbesessenheit alles ein, was er mühsam aufgebaut hatte. Der Abgang von Herrlich, der Knatsch mit Drygalsky, der Rauswurf von Krauss, das Tauziehen um Dahlin, die Inthronisation von Bongartz – hier wie dort machte Rüssmann eine traurige Figur. Und spielte, wiewohl er jeweils als Hauptfigur agierte, stets die Unschuld vom Lande. Binnen dreier Jahre hat er zuletzt Millionen Mark verpulvert, Tausende von Fans verprellt, Dutzende Talente verjagt und ebenso viele Flops verpflichtet. Und in der laufenden Saison gleich drei Trainer verschlissen. Seit zwei Wochen coacht in Gladbach der Beinahe- Rentner Friedel Rausch. Da hätte man, meinen Spötter, ja gleich Kuno Klötzer oder Tschik Cajkovski nehmen können...

Stellt sich die Konkurrenz nicht allzu blöde an, wird Borussia Mönchengladbach am 9. Mai in Wolfsburg der Bundesliga ade sagen müssen. Nach 33 Jahren ununterbrochener Erstklassigkeit gibt's ihre Spiele gegen Unterhaching oder Gütersloh dann montags im DSF zu bestaunen. Der Verein wird die Leistungsträger verkaufen und einen Neuaufbau wagen, der Manager die Konsequenzen ziehen und seinen Job zur Verfügung stellen müssen. Die Zeit der Netzer, Vogts und Heynckes ist dann endgültig Vergangenheit – und die Zukunft ungewiß. Entweder ist Borussia im Jahr 2000 pünktlich zum 100. Geburtstag wieder erstklassig. Oder der Fahrstuhl saust immer weiter in die Tiefe – und macht vielleicht im Jahr 2030 in der Kreisliga B und in einer Sendung namens „Balla Balla“ halt...

MSV Duisburg: Gill – Emmerling – Wohlert, Komljenovic – Wolters, Töfting (88. Neun), Zeyer (66. Vana), Osthoff, Hirsch – Salou, Spies (80. Reiter)

Zuschauer: 30.000; Tore: 0:1 Spies (27.), 0:2 Spies (37.), 0:3 Salou (39.)

Borussia Mönchengladbach: Kamps – Lupescu – Paßlack, Klinkert – Hoersen, Pflipsen, Effenberg, Anagnostou (46. Schneider), Witeczek (46. Ketelaer) – Pedersen (46. Voronin), Pettersson