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An der Bruchlinie der Zeit

Die Europäischen Kulturtage Karlsruhe erinnern an ein revolutionäres Stück der Musikgeschichte – allen voran Albert Lortzings „Regina“  ■ Von Frieder Reininghaus

Lange wurde die bloße Existenz geleugnet. Das deutsche Musikleben, die „Klassik“-Branche der Medien und selbst die liberalen Repräsentanten der Musikwissenschaft wollten noch vor ein paar Jahren nicht wahrhaben, daß es durchaus markante und politisch geschärfte Musikwerke aus der Ära der bürgerlichen Revolution 1848/49 gäbe. Die Herkunft des „Radetzky-Marsches“ vom älteren Johann Strauß wurde ebenso verdrängt wie Umstände und Kontext, in denen Robert Schumanns Märsche, Opus 76, entstanden waren. Giacomo Meyerbeers „Prophet“ schien für immer in der Versenkung verschwunden – und bei Franz Liszt sah man großzügig hinweg über das große Klavier-Poem „Lyon“, entstanden in Erinnerung an den Aufstand der Seidenweber in Burgund, erst recht über den imposanten „Arbeiterchor“ von 1847. Dessen Druckplatten ließ der Verleger 1848, nach dem Sieg der Konterrevolution in Wien und Pest, rasch einschmelzen.

Obwohl eine ganze Reihe von Quellen vernichtet oder verschüttet waren, hätte man freilich gewahr werden können, daß von 1830 an eine Bewegung unter der gesellschaftlichen Oberfläche stattfand, auf die gerade auch die Musik mit seismographischem Gespür reagierte. Diese Bewegung entlud sich 1848 – und brachte eruptiv eine erstaunliche Zahl von Spott- und Kampfliedern, Chöre der verschiedensten Provenienz, Märsche und „charakteristische Tongemälde“ hervor. Dazu für die Toten der Märztage, gedruckt und aufgeführt zugunsten der Hinterbliebenen, Dutzende von Trauermärschen. Im Rahmen der Europäischen Kulturtage in Karlsruhe wird nun in mehreren Konzerten an dieses verloren geglaubte Kontingent aus dem Fundus der Musikgeschichte erinnert.

Ein Werk freilich sticht auf besondere Weise hervor: „Regina“ von Albert Lortzing. Es ist die einzige Oper dieses Komponisten, von dem heute einige (mäßig) komische Stücke (wie „Zar und Zimmermann“ oder „Der Wildschütz“) von den Stadttheatern noch exekutiert werden. Im Unterschied zum zarenseligen Schmankerl oder auch zum „Waffenschmied“ bewegte er sich mit frappierender Genauigkeit an der Bruchlinie seiner Zeit: zwischen den biedermeierlichen Lebens- und Liebeserwartungen einer höheren Tochter und dem Lohnkampf der ans Existenzminimum gefesselten Arbeiter, zwischen ländlicher Idylle und heftig angebrochener Industrialisierung, zwischen den Idealen der bürgerlichen Revolution und rabiater, terroristischer Selbstverwirklichung. Der Text und die 666 Seiten der Partitur, geschrieben in Wien zwischen Ende Mai und Oktober 1848, enthalten keine konkreten Orts- und Zeitangaben, wiewohl sie voll Anspielungen auf das Zeitgeschehen sind.

Was es bis dahin auf der Opernbühne nicht gegeben hatte, was auch schlichtweg undenkbar war: Der Vorhang öffnet sich, und in einer Werkhalle legt die Belegschaft die Arbeit nieder, fordert Lohnerhöhung und überhaupt menschenwürdige Behandlung. Im Speckgürtel der österreichischen Hauptstadt beobachtete Lortzing das Aufbrechen des Jahrhundertkonflikts zwischen Lohnarbeit und Kapital im März 1848 aus nächster Nähe. Man konnte ihn, wie er Freund Meisinger per Brief mitteilte, in den Tagen der großen Gärung „mit der Muskete auf der Schulter und, in Ermangelung einer weißen Binde, mit einer schmierigen Conraetzschen Serviette um den Arm bei Tag und Nacht patrouillieren sehen, denn der Pöbel plünderte in den Vorstädten“.

Lortzing suchte mit den anderen Bürgern seiner liberalen Couleur die Errungenschaften der Märztage nach zwei Seiten hin zu verteidigen: gegen die (zunächst unterschätzte) „liebe Reaktion“ (die ihm nach ihrem Sieg im Oktober den kurzen Rest seines Lebens sehr sauer machte) – und gegenüber jenen gesellschaftlichen Kräften, welche die Gelegenheit zum Plündern, gar zum Marodieren ergriffen. All das wurde in „Regina“ verarbeitet: der Streik und wie er vom Prokuristen unter Hinweis auf freiwillige Sozialleistungen des noch abwesenden Fabrikanten abgewiegelt wird. Gezeigt wird der kurzfristige Sieg des Bürgertums unter dem Motto „Freiheit und Einigkeit“, aber auch, wie von radikalen Kräften die Fabrik angezündet wird (von einem Freicorps unter Führung eines Kerls, der unverkennbar die Züge Georg Herweghs trägt: des Dichters, den Freund Heinrich Heine als „eiserne Lerche“ rühmte.

„Wir kommen ungeladen zum Feste...“ singen die Freischärler in Lortzings Oper – welch eine Metapher für das, was sich bei künftigen Revolutionen entladen sollte! Insgesamt weist dieses Hauptwerk Lortzings höchst differenzierte Chorpartien, Arien und Duette auf. Sie war für den Repertoirebetrieb in einer „freien Republik“ gedacht. Da wurden die revolutionären Ereignisse nicht einfach abgebildet, sondern sie gaben die verallgemeinernde Folie für eine Handlung ab, in deren Mittelpunkt eine zu enormem Selbstbewußtsein erwachende Frau steht.

Als am 9. November Robert Blum, Fraktionschef der gemäßigten Linken im Frankfurter Parlament und Freund des Komponisten, in Wien – unter vorsätzlichem Bruch geltenden Rechts – hingerichtet wurde, stürzte Lortzing in eine Krise. Er mußte rasch verschwinden, um dem Wüten der Konterrevolution zu entgehen. An eine Aufführung oder den Druck von „Regina“ war nicht mehr zu denken.

Ein halbes Jahrhundert später erinnerte man sich in Berlin des im Nachlaß schlummernden Werks. „Auf allerhöchsten Befehl“ S.M. des deutschen Kaisers Wilhelm II. kam 1899 „Regina oder die Marodeure“ an der Hofoper heraus – bearbeitet von Adolph L'Arronge zu einem patriotischen Stück des Jahres 1813. Analog in Dienst genommen wurde „Regina“ Anfang der fünfziger Jahre in der jungen DDR – in den eingeschobenen Dialogen brach marxistisch-leninistische Klarheit an.

Erst 1981 wurde Lortzings Originaltext publiziert, zusammen mit einer Fassung für das damals noch existierende Musik-Theater in Oberhausen. Es dauerte nochmals 17 Jahre, bis der Musikverlag Ricordi eine nach den Handschriften des Komponisten herausgegebene Partitur und neues Aufführungsmaterial edierte; es bildete die Grundlage der Inszenierung von Peter Konwitschny, die jetzt – unter vielfältigen optischen Anspielungen auf die dem Regisseur mißraten erscheinende neuere deutsche Geschichte – am Schillertheater Gelsenkirchen und in Wuppertal gezeigt wird. Konkurrierend dazu brachte auch das Staatstheater Karlsruhe diese Oper nach der neuen Ausgabe heraus. Geplant war zunächst eine halb konzertante Produktion, die aber wuchs unter den Händen von Klaus Kusenberg und Christian Floeren, der frühere Industriearchitektur herbeizitierte, dann doch noch kurzfristig zu einer veritablen Inszenierung heran. Zum ersten Mal wird in Karlsruhe – unter Leitung von Volker Plangg – Lortzings Musik auf hohem Niveau präsentiert: eine späte Rehabilitierung der enormen Partitur. Die Hürden, die sich vordem vor der Wahrnehmung der Musik von 1848 auftaten, scheinen genommen. Vor ihr könnte nun freie Fahrt liegen.

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