: Nachhilfe für die mongolische Presse
20. Dezember 97
Die Grenzsoldaten auf Ulan Bators kleinem, modernem Flughafen, durch dessen beschlagene Fensterscheiben man auf eine schneebedeckte Flugbahn blickt, haben die längsten und spitzesten Militärmützen der Welt. Ihre würdevolle Ausstrahlung wird durch die langen, stahlblauen Mäntel und hohen, blankgewienerten Stiefel noch unterstrichen. Die Soldaten sind streng, aber freundlich. „Willkommen in der Mongolei“, begrüßt mich der, der meinen Paß stempelt, in einem melodischen Singsang.
Am Ausgang entdecke ich ein bekanntes Gesicht: Sunji vom mongolischen Presseinstitut, dessen Gast ich eine Woche lang sein werde, ist schon da. Freundlich strahlt sie mir unter ihrer großen Fuchspelzmütze entgegen.
Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt kommt man an einem Denkmal vorbei, das die russischen Soldaten bei ihrem Abzug nach siebzigjähriger Besatzung zurückgelassen haben. In all seiner real-sozialistischen Beton-Häßlichkeit steht es da auf einer Anhöhe – ein Mahnmal für die Mongolen, das sie an die Vergangenheit erinnert, gegen die sie angetreten sind, um aus den Ruinen des sozialistischen Experiments eine moderne Ökonomie und demokratische Gesellschaft aufzubauen.
Die umliegenden Berge sind mit frischgefallenem Schnee bedeckt. Ein zugefrorener Fluß schlängelt sich durch winterliche Felder, Kinder toben an seinen baumgesäumten Ufern. Dünne weiße Rauchsäulen steigen über den Ger auf, den weißen Zeltstädten der Vorstädte. Vier Fabriken beherrschen die Skyline: drei Elektrizitätswerke und die Akhi-Wodkafabrik – eine wichtige Institution in einer Nation von Schnapstrinkern.
Ich bin hierhergekommen, um eine kleine Gruppe mongolischer Journalisten mit einigen westlichen Prinzipien ethischer Pressestandards bekannt zu machen. In ihrer postkommunistischen Zeit hat die mongolische Presse einen entschiedenen Hang zum Boulevardjournalismus entwickelt. Immer mehr Zeitungen setzen auf Unterhaltung statt auf Information und zeigen immer weniger Interesse an einer verantwortungsbewußten Recherche. Das Presseinstitut der Mongolei, das zum Zweck der Vermittlung westlicher Pressestandards gegründet wurde, hatte mich um ein Seminar für Journalisten und Journalismusstudenten gebeten, in dem es vor allem um ethische Fragen gehen soll.
Das Presseinstitut ist eine Art NGO, die mit ausländischer Hilfe, vor allem durch die dänische Hilfsorganisation Danida, finanziert wird. Sein Direktor, Tsendiin Enkhbat, ist ein engagierter, freundlicher Mann, der früher selbst einmal als Journalist gearbeitet hat.
21. Dezember
Ich habe einen freien Tag, um mir die Stadt anzusehen. Draußen hat es 15 Grad minus – viel zu warm für die Jahreszeit, wie man mir versichert. Seit Tagen hat es nicht geschneit, und die Bürgersteige sind mit einer harten Kruste spiegelglatten Eises überzogen. Morgens um neun sind ein paar Nachtschwärmer noch immer schlingernd und torkelnd auf dem Weg nach Hause. Einer streitet sich heftig mit einer jungen Frau, packt sie am Arm und wirft sie fast zu Boden. Sie reißt sich los und läuft weg, und er schreit ihr seine Beleidigungen hinterher. Die Passanten kümmern sich nicht darum.
Ziel meines Ausflugs ist der Sukhbaatar-Platz, der in Größe und Bedeutung seinen Gegenstücken, dem Roten Platz in Moskau und dem Tiananmenplatz in Peking, ähnelt. Eine Schlange fröstelnder Fotografen haben auf Stelltafeln ihre Arbeiten ausgestellt und versuchen auf dem riesigen, fast menschenleeren Platz Abnehmer dafür zu finden.
Der Platz ist nach dem Führer der mongolischen sozialistischen Revolution von 1923 benannt. Seine Begeisterung für den Umbau der mongolischen Gesellschaft in einen sowjetisch geprägten, marxistischen Staat wurde von den vielen tausend Menschen, die seinen blutigen Säuberungen zum Opfer fielen, nicht geteilt.
22. Dezember
Die Mongolen sind nicht gerade begnadete Baumeister – was nicht weiter verwunderlich ist, da die Mehrheit der Bevölkerung bis heute in Zelten lebt. Da ist zum Beispiel die Eingangstreppe des mongolischen Presseinstituts: Jede Stufe ist ein Einzelstück und unterscheidet sich in Höhe, Fläche und Neigung von der darüber und darunter. Wer an einheitliche Stufen gewöhnt ist, wird einen Aufstieg ohne Stolpern zunächst für fast unmöglich halten. Aber nach ein paar Versuchen findet man in den richtigen Rhythmus: wann ein großer Schritt nötig ist, wann man sich etwas vorbeugen muß und so weiter. Vor dieser Treppe hatte ich schon bei meinem ersten Besuch größten Respekt. Ihre Exzentrik will beachtet sein.
Meine erste Klasse besteht aus 15 Männern und Frauen zwischen 18 und 51 Jahren. Die meisten sind Printjournalisten, und fast alle arbeiten für Boulevardblätter mit Namen wie Alarm, Top Secret, Die Wahrheit oder Oh, diese Frauen.
Sie bringen reichlich Erfahrung mit für eine Diskussion über Situationen, in denen man als Journalist vor ethischen Entscheidungen steht. Der Vertreter von Top Secret war beispielsweise erst kürzlich mit einer „heißen Story“ in eine heikle Situation geraten: Der Kapitän der mongolischen Basketball-Nationalmannschaft hatte eine Affäre mit Miss Mongolei, während seine Frau zur Geburt ihres Kindes im Krankenhaus lag. Zum Pech für den Journalisten stellte sich heraus, daß sein eigener Vater ein guter Freund des Vaters des Basketballspielers war und sein Schwager für die Autovermietungsfirma des Vaters des Spielers arbeitete. Seine Veröffentlichung hatte deshalb ein paar unangenehme Folgen.
Mit beiden Beinen fest im Schmutz steht auch der Alarm. Diese Zeitung ist mit einer Auflage von 25.000 der Marktführer, weit vor Heute, die als einzige Qualitätszeitung gelten kann. Erfolgreich ist auch die polizeieigene Zeitung Tugend und Laster, die sich allerdings selten je mit der Tugend beschäftigt.
Obwohl die Mongolei in hohem Maße alphabetisiert ist, hat sie keinen besonders großen Lesermarkt. Insgesamt erreicht er gerade mal eine sechsstellige Zahl, und einige Zeitungen müssen sich mit ein paar hundert Lesern bescheiden. Dem Fernsehen geht es etwas besser. Neben dem staatlichen Mongol TV gibt es zwei unabhängige Sender: Eagle-TV, das von einer christlichen Gruppe aus Süd-Korea unterstützt wird, und Kanal 24, der zur selben Unternehmensgruppe gehört wie Heute.
Der Reporter von Alarm hatte eifrig die heiße Spur eines afrikanischen Touristen verfolgt, der angeblich mongolische Frauen mit Aids infiziert hatte. Auf ihrer Titelseite meldete die Zeitung, der Besucher aus Kamerun haben mindestens 25 Jungfrauen im Alter zwischen 13 und 18 infiziert, die vor seiner Hoteltür Schlange gestanden haben sollen, um Sex mit dem geheimnisvollen Romeo zu haben. Das Gesundheitsamt veröffentlichte wenig später eine durchaus weniger sensationelle Version.
Die älteren Kursteilnehmer steuerten Geschichten über die Medienpraktiken und Repressionen der alten Zeit bei. Einer von ihnen verlor seinen Arbeitsplatz wegen eines – nie publizierten – Artikels über einen betrunkenen russischen Lastwagenfahrer, der in eine Gruppe Schulkinder hineingefahren war, wobei drei Kinder ums Leben kamen. Der Fahrer war nach Rußland zurückgeschickt und nie vor Gericht gestellt worden.
23. Dezember
Ich bin neugierig auf die Zeitungen, für die meine Kursteilnehmer schreiben. Also gehe ich nach dem Frühstück zum Zeitungsstand in der Friedensallee. Dort liegen, ausgebreitet auf Holzbänken wie eine Steppdecke, verwirrend viele Titel zur Auswahl, mindestens 40.
Als die Mongolen vor sieben Jahren das Wort Freiheit hörten, rannten sie los und kauften sich Druckerpressen. Seit der demokratischen Revolution von 1990 sind unabhängige Zeitungen wie Pilze aus dem Boden geschossen: Nach letzten Zählungen waren es 550. Aber diese Explosion hat vor allem zu Problemen geführt, die sich in einem Land, in dem es keine Vorstellung von westlichen Berichterstattungsstandards gibt, vor allem in mangelnder Qualität der Berichte und der Recherchen zeigen. Die Folge ist eine wahre Flut schlecht recherchierter, schlecht geschriebener und schlecht aufgemachter Zeitungen, die die Chancen für den Aufbau einer vernünftigen und verantwortungsbewußten Medientradition auf lange Zeit schwächen könnten.
24. Dezember
Ich nutze eine Pause zwischen zwei Trainingsblöcken, um einen Mann zu besuchen, den ich schon bei meinem letzten Aufenthalt getroffen hatte und der als Vater der freien Presse der Mongolei gelten kann. Tsendin Dashdondov ist Präsident der Freidemokratischen Journalistenvereinigung der Mongolei, einer Organisation, die sich zur Zeit der demokratischen Revolte für die Befreiung der mongolischen Presse aus den Fesseln der Regierungskontrolle engagiert hatte. Er residiert in einem winzigen, mit Stapeln vergilbter Zeitungen vollgestopften Büro, das über einer düsteren, fensterlosen Bar liegt, die als „Journalistenclub“ bekannt ist.
Während wir starken Tee schlürfen, schimpft er über die schlechte Qualität und die mangelnde professionelle Ethik der mongolischen Journalisten. Er wirft ihnen vor, die Chance einer sozialaufklärerischen Presse zu verspielen.
„Nach 1990 entstand eine wahre Zeitungsflut“, sagt er. „Aber seitdem ist das Image der freien Presse von unqualifizierten und unbegabten Journalisten verdorben worden, die Zeitungen und Zeitschriften von erbärmlicher journalistischer Qualität produzieren. Eine freie Presse bedeutet, daß man für eine kritische Kommentierung der Regierung auch qualifiziert ist. Die gesellschaftliche und politische Situation in unserem Land ist zur Zeit besonders schwierig. Die Öffentlichkeit ist noch nicht daran gewöhnt, selbst zu denken und zu analysieren. In dieser Situation sollten Journalisten Berichte schreiben, die auf überprüfbaren Fakten basieren und nicht auf Gerüchten oder Meinungen. Wenn wir das nicht zustande bringen, verpassen wir nicht nur die Chance, unsere Gesellschaft verantwortungsvoller zu machen; wir liefern auch denen, die die Presse wieder unter Kontrolle bringen wollen, gute Gründe, die Zensur wiedereinzuführen.“
25. Dezember
Am Weihnachtsmorgen erwache ich in ein ungewohntes Geräusch hinein: Unser erster Weihnachtstag ist ein normaler Arbeitstag hier, aber der Verkehr ist merkwürdig gedämpft. Ich sehe aus dem Fenster, und vor mir liegt eine durch starke Schneefälle völlig veränderte Stadt. Der Schnee fällt immer noch, türmt sich vor den Schaufenstern und färbt Köpfe und Schultern der Passanten weiß.
Ich habe das Gefühl, dies sei ein Tag für irgendeine Form geistiger Unternehmung, und beschließe, das Gandan-Kloster zu besuchen, eines der wenigen Relikte aus der Zeit buddhistischer Tradition der Mongolei. Vor der Machtübernahme durch die Kommunisten war die Mongolei ebenso Zentrum des tantrischen Buddhismus wie Tibet. Noch Anfang dieses Jahrhunderts waren 700 Klöster über das ganze Land verstreut, und ungefähr ein Drittel der männlichen Bevölkerung waren Mönche. Nach der antilamaistischen Säuberung der Kommunisten waren nur noch drei Klöster übrig und über 30.000 Mönche tot.
Heute erlebt die Mongolei eine Wiederbelebung der Religion, und am frühen Morgen sind die Klösterhöfe Ulan Bators voller Menschen, die vor den Hallen Schlange stehen. Im Inneren sitzen gelbgewandete Mönche in langen Reihen und singen sutras. Im Vorhof des Gandan-Klosters sehe ich einige alte Frauen, die, mit vor Kälte tränenden Augen, im nassen Schnee vor einer alten verwitterten stupa [buddhistischer Kultbau, Anm. d. Red.] knien. Im Hauptsaal, der voller vergoldeter Buddhas steht, erfüllen das gelbe Licht der Kerzen und der ölige Qualm der Butterlampen die Luft mit einem warmen Glühen. Auf einer Holzbank im hinteren Raum kämpft ein kleiner Novize, vielleicht acht oder neun Jahre alt, gegen seine Müdigkeit. Immer wieder fällt sein Kopf auf das vor ihm aufgeschlagene Buch. Sobald ihm das Kinn auf die Brust sinkt, stößt ihn ein alter Mönch sanft mit einem Stöckchen an.
26. Dezember
Der große Volks-Hurral, das mongolische Parlament, ist ein Beispiel für die Architektur der Angst. Massiv und furchteinflößend nimmt es auf einer Seite die ganze Breite des Sukhbataar-Platzes ein – eine mahnende Erinnerung in gnadenlosem Grau an das Unterdrückungsregime, das es baute.
Ein Polizeiwagen liefert mich am Eingangstor ab. Anfang der Woche hatte der regionale Fernsehsender Kanal 24 in den Abendnachrichten über meinen Ethikkurs berichtet und mich und einige der Kursteilnehmer interviewt. Ein höherer Regierungsbeamter, Dashzhamtsiin Battulga, Vorsitzender eines ständigen Ausschusses, der zur Zeit mit der Gesetzesvorlage für ein neues Mediengesetz beschäftigt ist, hatte die Sendung gesehen und mich zu einem Plausch zitiert.
Wir treffen uns in einem Raum des Komitees und sitzen uns an Kopf- und Fußende eines Tisches gegenüber, an den mindestens weitere 40 Menschen passen. Herr Battulga erklärt mir, eine der Hauptaufgaben des Komitees sei die Organisation des Privatisierungsprozesses der staatseigenen Medien. So sucht das Kommitee im Ausland nach Modellen der Medienregulation. Zwar ist man besorgt über die Exzesse der mongolische Presse, zögert aber mit Eingriffen, weil das zu sehr nach alten Zeiten und staatlicher Kontrolle riechen würde. Ich berichte ihm über Presse- und Rundfunkräte und die gesetzlichen Regelungen zur Verhinderung von Medienmonopolen am Beispiel Australiens.
Ich habe noch einen dicken Stapel dieser hyperinflationären mongolischen Geldscheine, tugrigs, in meiner Tasche. Ich schlage vor, davon eine Party in meiner Wohnung für die Mitarbeiter des Presseinstituts zu geben, was begeistert aufgenommen wird. Abends um acht ist mein winziges Wohnzimmer vollgepackt mit korpulenten mongolischen Leibern, die kein Fleckchen Teppichboden frei lassen. Mongolen feiern meistens gemeinsam, das heißt, es gibt nur eine Runde und ein Gespräch. Die Gäste tragen abwechselnd zur Unterhaltung der anderen bei: Einer rezitiert ein Gedicht, ein anderer singt ein trauriges Lied.
Es ist die bisher kälteste Nacht, minus 30 Grad. Die meisten Gäste gehen um elf Uhr, ihre Gesichter sind vom Wodka und vom Reden gerötet. Aber ein paar sind zu aufgekratzt, um schon nach Hause zu gehen, und wir beschließen, noch auszugehen und die Bars von Ulan Bator zu testen.
Die Auswahl ist groß. Zu den schickeren gehört die Matisse-Bar, in die man nur durch ein Spalier jugendlicher Bettler kommt, die, in dicke Schichten von Lumpen und Altkleidern gewickelt, auf dem Parkplatz herumlungern. Die Stadt hat zur Zeit ein großes Obdachlosenproblem, besonders mit Jugendlichen und Kindern, die unter den wirtschaftlichen Problemen, die der Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus mit sich bringt, besonders leiden. Sie übernachten am Straßenrand, in den Eingängen von Wohnhäusern und nagen am Gewissen der Bevölkerung.
Wir landen in Emons Bar, wo ein paar russische Ingenieure betrunken über die Tanzfläche wanken, beäugt von Prostituierten mit schwindenden Erwartungen. Als wir endlich gehen, ist nur noch Zeit für ein schnelles Frühstück, bevor mich das Auto zum Flughafen abholt. Enkhbat, der mit seinem Schafsfellmantel und der Pelzmütze aussieht wie ein Bär, ist gekommen, um mich zu verabschieden. Er stopft mir die Tasche mit Wodkaflaschen voll und verrät mir den Trick, den Zoll mit in Mineralwasserflaschen abgefülltem Wodka zu überlisten.
Ich bin mir nicht so sicher, daß das funktionieren wird.
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